Jussifs Gesichter
sondern zu einem Treffen mit einer bestimmten Person, die er kannte und die er klar vor Augen hatte: Es war der andere Jussif Mani, dem er vor fünfunddreißig Jahren den Laufpass gegeben hatte. Vielleicht würde er Jussif Mani auf der Straße treffen oder auf dem Rasenstück im Kreisverkehr am Museumsplatz sitzend entdecken, dem ersich jetzt näherte. Oder Jussif Mani würde auf gleicher Höhe wie er auf der anderen Straßenseite gehen, wie ein alter Freund, dessen Rückkehr er seit Jahren erwartet hatte, oder wie ein Fremder, dem er zum ersten Mal begegnete. Der Fremde würde nach kurzem Gespräch sein Freund werden und ihm sagen, dass er alles vergessen solle, was zwischen ihnen geschehen sei, sie hätten einander schon genügend Wunden geschlagen. Er solle die Vergangenheit vergessen, die sie beide zerstört hätte, er solle die Menschen insgesamt vergessen und fortan mit ihm gehen. Sie wären wie zwei Liebende, die einander zum ersten Mal begegneten und sich ähnliche Geschichten erzählten. Er würde seinem Double Jussif erzählen, was ihm widerfahren war.
Alles hatte sich geändert. Die Hoffnungslosigkeit saß ihm seit langen Jahren in allen Knochen. Jetzt verlangte er seine Erlösung und rief nach Jussif Mani. Er wusste, dass er vor den Augen des Jussif Mani nicht in die entgegengesetzte Richtung fliehen konnte, nur in die Richtung, in die er bis jetzt gegangen war.
Es war ein Weg voller Gräben und Pfützen, ein Weg, der durch ein Schlachtfeld zu führen schien. Die Schlacht war vorbei, aber nicht wirklich zu Ende. Zum ersten Mal in seinem Leben beschritt Jussif diesen Weg bei vollem Bewusstsein. Er konnte sich den anderen Jussif vorstellen, den er vor fünfunddreißig Jahren aus seinem Leben verbannt hatte, und er war sich sicher, manches mit ihm teilen zu können: das auf seinem Gesicht erstarrte Lächeln, das Lachen, dessen furchtsame Art zum Ausdruck brachte, wie sehr er sich vor der ungewissen Zukunft ängstigte, gleichzeitig aber die Verluste anerkannte, die ihm das Leben zugefügt hatte. Vielleicht würden sie bei ihrem ersten Treffen nach all diesen Jahren zu dem Schluss kommen: »Wir müssen diese Geschichte endlich zu einem Ende bringen, damit wir beide zu uns selbst zurückfinden.«
Dabei hatte er keine Ahnung, was für schreckliche Dinge dem anderen widerfahren waren. Schmerzen, Leiden und Verluste waren nicht zu vergleichen.
Jussif versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, was ihm in diesen Jahren zugestoßen war. Er wusste, dass das Erinnern eine »Strategie der Lüge« barg. Denn die Ereignisse, an die er sich erinnerte, hätten ganz anders ausgesehen, wenn jemand anderes sie erzählt hätte. Wenn er sie jetzt aus dem Archiv seiner Erinnerungen hervorholte, kam es ihm so vor, als finde er nicht zu sich selbst, als beträfen die Erinnerungen nicht ihn. Es war, als würde jemand anders sie erzählen, eine dreiste Person in seinem Inneren, die sich aus seinem Archiv nach Belieben bediente.
Jussif wollte sich an alles erinnern: an das kleine Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt, an die Toten und die Lebenden, die nackt Zurückgelassenen und die Begrabenen, die Mörder und die Ermordeten, die Henker und die Gefangenen, die Sesshaften und die Vertriebenen, die Krieger und die Friedfertigen, die Nüchternen und die Betrunkenen, die Dummen und die Klugen, die Schlafenden und die Träumenden, die Ausgeruhten und die Müden, die Soldaten und die Frauen. Wollte er sich an zu viel auf einmal erinnern?
Er brauchte eine kleine Verschnaufpause, um sein Archiv neu zu ordnen, um sich selbst sagen zu können: Dies hat zu mir zurückgefunden, jenes wird zu ihm zurückfinden. Dies gehört dem alten Jussif Mani und jenes dem neuen.
Als Jussif schon eine beträchtliche Wegstrecke zurückgelegt hatte, wurde ihm bewusst, wie viel noch zu klären war. Er musste den richtigen Weg einschlagen und sich vieler Unsicherheiten entledigen. Andererseits durfte Sarab nicht bemerken, dass er ein anderer geworden war als der, den sie kannte. Für sie musste er die Person bleiben, die sie geheiratet hatte.
Der schweigsame Jussif, der sich bis zur ersten Begegnung mit Sarab vor der Preisgabe seines Geheimnisses gefürchtet hatte, begann damals plötzlich zu erzählen und zu erzählen. Ein brennendes Redebedürfnis beherrschte ihn. Nur die Geschichte von dem Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt behielt er, wie sie wirklich geschehen war,
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