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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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Fahnenflüchtigen, unter dem Namen Harun Wali. Er beteuerte, dass er nicht Harun Wali sei. Er kenne ihn zwar, seinen Freund, den Schriftsteller, der sich ins Ausland davongemacht hatte, aber das sei auch alles. Schließlich konnte er sie von der Echtheit einer anderen Identität überzeugen: Jussif Karim. Sie zertraten die Papiere mit ihren Stiefeln, schrien auf ihn ein und verprügelten ihn. Jahrelang musste er die Rolle des »Harun Wali«, die sie ihm verliehen hatten, spielen, heimlich in seinem eigenen Haus ein-und ausgehen, bis er aus dem Militär entlassen wurde. So brachte er sein halbes Leben hin. Er drohte in einem Strudel von Namen zu versinken, die er sich fälschlich zugelegt hatte, und Sarab mit ihm. Aber es war genug, er wollte endlich zu sich selbst zurückfinden!
    »Warum wird Ausweisen eine solche Wichtigkeit beigemessen? Seit wann bestimmen Papiere das Schicksal der Menschen?« Jussif hatte diese Worte, die Onkel ‘Assim einmal gesagt hatte, noch im Gedächtnis. Wo mochte er seinen Schwiegervater jetzt finden, um ihm erwidern zu können: »Ja, Papiere bestimmen das Schicksal der Menschen.« Jahrelang hatte er versucht, sich auf Onkel ‘Assims Worte zu verlassen. Nun hatte er ausgesprochen, wovor er sich all die Jahre gefürchtet hatte: dass die Erinnerung eines Tages erwachen und er sich schlagartig der Vergeblichkeit seines Handelns bewusst werden würde. »Wer trägt wessen Schuld?« Diesen Satz trug er mit sich, seit er mit Onkel ‘Assim zusammengesessen und Fernsehen geschaut hatte, in diesem Haus im Baladiyat-Viertel, in dem Sarab zurückgezogen mit ihrem Vater lebte. Vor langer Zeit hatte er ihn ins Unterbewusstsein verdrängt. Nur ab und an zeigte sich dieser Satz, im letzten Jahr fortwährend und seit der letzten Nacht immer stärker und eindringlicher.
    Führte man den Menschen ihre Vergangenheit vor Augen,leugneten sie sie. Zeigte man ihnen Dokumente, die ihren Namen trugen, sagten sie: »Gibt es einen Menschen ohne Vergangenheit?« Diese Frage war nicht leicht zu beantworten. »Oh Vergangenheit, was hast du aus meinem Leben gemacht?« Er konnte sich vorstellen, wie Millionen von Menschen diesen Satz überall auf der Welt ständig wiederholten, in Ost und West, Nord und Süd. Immer gab es eine Vergangenheit; sie war das Hindernis. Wer sich einen neuen Namen zulegte, legte sich auch eine neue Vergangenheit zu. Nein, diese Frage war nicht so leicht zu beantworten, wie Onkel ‘Assim dachte. Denn wer nicht an die Vergangenheit glaubte, würde auch nicht an die Aussagekraft von Dokumenten glauben. Wer ein Dokument mit sich trägt, aus dem hervorgeht, dass er der X, Sohn des Y sei, dass er zu diesem Datum, an diesem Ort, in diesem Land geboren sei, der muss dem Dokument folgenden Satz hinzufügen: »Wer trägt wessen Schuld?« Sage mir deinen Namen, und ich sage dir, welche Geschichte du mit dir herumträgst, welche Geschichte du hinter dir gelassen hast oder hinter dir lassen willst.

Drittes Kapitel
    Ein Besuch im Leichenschauhaus:
    Werde ich wirklich verfolgt?
    Und wo soll meine eigene Leiche liegen?
     
    Jussif erreichte den Platz am Stadttor Bab al-Mu’adhdham, betrat aber nicht, wie er unterwegs überlegt hatte, das Café, dessen Eingang sich zum Platz hin öffnete. Zuvor hatte er große Lust verspürt, dort sein morgendliches Glas Tee zu trinken. Doch als er merkte, dass ihn zwei Personen verfolgten, wechselte er seinen Koffer von der einen in die andere Hand und zog es vor, seinen Weg fortzusetzen. Vor dem Café beobachtete er einige Militärfahrzeuge. Zwei Offiziere, die Sonnenbrillen und Stahlhelme trugen, stiegen aus. Angesichts dieser Gestalten hielt er es für besser, den Platz schnell zu verlassen. Abgesehen davon, dass alles Mögliche plötzlich passieren konnte – sei es die Explosion einer Sprengladung, ein überraschendes Handgemenge oder eine Schießerei –, er hasste den Anblick von Soldaten, egal welcher Nationalität und welchen Aussehens, ob Landsleute oder Ausländer. Um ihren Anblick zu vermeiden, hatte er sich vom Verlassen des Hauses bis jetzt bemüht, sich auf Nebenstraßen durchzuschlagen. Als Jussif seinen Kopf zu der Fahrzeuggruppe wendete, um etwas über die Absicht der Soldaten herauszufinden, merkte er, dass ihm tatsächlich jemand auf den Fersen war. Gern hätte er sich ganz umgedreht, um sich die Gesichtszüge seiner Verfolger einprägen zu können, aber er fürchtete, sie durch diese Bewegung zu reizen. Vielleicht waren sie bewaffnet. Wer außer ihm

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