Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
Vom Netzwerk:
sich, nicht zu lügen, sondern zu erklären, dass er vor seinem Bruder auf der Flucht sei. Onkel ‘Assim wunderte sich nicht über diese Geschichte, als kenne er die Details, ja als kenne er die Brüder selbst, und sagte: »Dann stimmt also meine Vermutung, dass du eigentlich ein anderer bist.« Jussif hatte keine Ahnung, woher Sarabs Vater diese Informationen hatte. Dieser sagte ihm, dass er alles über ihn wisse. Er solle sich aber nicht beunruhigen und die Angelegenheit ihm überlassen, er würde schon alles in Ordnung bringen. Dann fügte Onkel ’Assim hinzu, dass auch er schon lange seinen Namen ändern wollte. Alle Menschen sollten dies tun: Jung und Alt, Araber und Kurden, Turkmenen und Chaldäer, Assyrer und Tell Kaifen, Zigeuner und Jeziden, Schiiten und Sunniten, Mandäer und Schabaken, Ketzer und Gläubige, Zuhälter und Huren, Geheimdienstler und Häftlinge, Mörder und Ermordete, Kranke und Gesunde, Verrückte und Normale, ja alle Gruppen und Parteien, alle Religionsgemeinschaftenund Konfessionen, Rassen und Altersstufen, Geschlechter und Berufe und Anstellungen und Schicksale und Zustände. Er wollte einen großen Palast bauen, um in allen Akten Namen, Identität, Geschlecht, Rasse und Anstellung der Menschen aus freien Stücken zu verändern. Auf diese Weise würden alle wissen, dass sie einander wirklich ebenbürtig wären.
    »Und was ist mit den Ehemännern und Ehefrauen?«, hatte Jussif gefragt.
    Er glaube nicht, hatte der Vater geantwortet, dass die Ehefrauen dieses Landes etwas gegen eine Namensänderung hätten, da sie abenteuerlustiger und mutiger seien als ihre Männer. Die seien das Problem. In keinem anderen Land gebe es so egoistische Männer wie in diesem. Sie täten nicht, was sie sagten, und hätten – ausnahmslos – zwei Gesichter. Es sei jedoch ein Irrtum, anzunehmen, dass diese zwei Gesichter sich grundlegend voneinander unterschieden. Das offizielle Gesicht sei nach außen hin böse, das nach innen versteckte noch boshafter.
    Dann erzählte Sarabs Vater Jussif die folgenden Geschichten von Mas’ud al-Amaratli und Nuri al-Sa’id: »Mas’ud al-Amaratli hatte eines Tages das Gefühl, eine Frau zu sein, die große Lust hatte zu singen. Er hörte seine Stimme und wurde sich der ihm innewohnenden Weiblichkeit bewusst. Doch wer konnte zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts offiziell als Sänger mit weiblicher Stimme auftreten? Ihm war klar, dass er sich seine Eigentümlichkeit nicht ausgesucht hatte. In ihm wirkten starke weibliche Hormone, die die Ursache für seine Stimme waren. Was sollte er mit einer solch schönen weiblichen Stimme also anfangen, da Familie, Ehre und Keuschheit ihm verboten, sich dazu zu bekennen, was es mit dem berühmten Sänger Mas’ud auf sich hatte? Mas’ud wusste, dass er eine schöne Stimme besaß, und der Wunsch, zu singen, quälte ihn. Er war es leid, auf die Felder zu fliehen und dort, vor allen Blicken und Ohren verborgen, seine Lieder zu schmettern. Alsobeschloss er, seine Bauernkleider gegen Frauenkleider zu tauschen und in die Stadt zu fliehen. Dort gab er sich als Frau aus, die nach kurzer Zeit ihre Kleider gegen Männerkleidung eintauschte, gegen die prachtvolle Kleidung eines aristokratischen Scheichs, um genau zu sein. Unter dem Vorwand, eine als Mann verkleidete Frau zu sein, begann er in Cafés und auf Festen zu singen. (So konnte er über seine Weiblichkeit und vielleicht auch über eine Sexualität bestimmen, die andere als » exzentrisch « oder » abartig « bezeichneten – ein modernes Wort, das sich aus einer falschen Übersetzung des Begriffs » homosexuell « herleitet, falls er diesen Hang hatte. Keiner weiß es.)
    Die zweite Geschichte handelte von dem Politiker Nuri al-Sa’id. »Als die Offiziere, die später die Macht übernahmen, ihre scheußlichen Verbrechen begingen und die königliche Familie umbrachten, floh der letzte Ministerpräsident dieser Ära, Nuri al-Sa’id, aus Angst vor dem Zorn des Pöbels in Frauenkleidern in ein Dorf nahe der Stadt Kut an der iranischen Grenze. Stell dir das mal vor«, sagte Onkel ’Assim. »Er, der Macho, der seinen Revolver so in seine hintere Hosentasche steckte, dass er unter der Jacke hervorschaute, der ihn sogar trug, wenn er meine Schneiderwerkstatt aufsuchte – dieser Mann musste Frauenkleider anlegen: Schela , eine Art Kopftuch, und Abbaja , einen mantelartigen Überwurf.«
    Ich kannte beide. Sie waren meine Kunden und ließen sich nirgendwo anders ihre Kleider nähen.«
    Jussif

Weitere Kostenlose Bücher