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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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er aus dem Jugendgefängnis entlassen worden sei. Er hasste den Namen, der mit der Ermordung des Mädchens zusammenhing. Als sein Schwiegervaterdie Geschichte der Namensfälschung hörte, dachte er, Jussif habe sich damit der Einberufung entziehen wollen. Seine Einheit stand kurz vor der Verlegung von Mahawil nach Faw, um mit den dort bereits eingesetzten Soldaten Zerstörung, Dreck, Einsamkeit und Angst zuteilen. In Faw hatten schon die ersten Gefechte begonnen, die ersten Anzeichen des beginnenden Krieges. Er hatte zwar das Gefühl, dass Sarab dieses Argument – sich der Verlegung seiner Einheit an die Front zu entziehen – für eine Namensänderung akzeptiert und ihn sogar dazu ermutigt hätte. Und er zweifelte nie daran, dass sie anders als die anderen jedem seiner Worte glaubte. Trotzdem konnte er ihr erst nach langer Zeit die wahre Geschichte seiner Namensfälschung erzählen, nämlich dass sein Bruder das Mädchen ermordet hatte, in das Jussif verliebt gewesen war.
    Sarab nahm seine Worte ernst und fragte ihn immer wieder nach Einzelheiten. Sie war neugierig. Manchmal war er erstaunt, was alles aus seinem Mund hervorsprudelte. Sobald er merkte, dass ein Ohr ihm lauschte, nahm sein Eifer zu. Er ging weiter und weiter, fügte hier und da etwas hinzu, schmückte die Erzählung aus und schönte ein paar Stellen. Es war, als wollte er sich vor Gewissensbissen schützen. Wenn er allein zu Hause oder im Büro war, überkam ihn ein Gefühl der Verlorenheit. Das Gefühl überkam ihn auch im Café, wenn er seine Wasserpfeife rauchte oder wenn er in der geheimen Bar, der Mekka-Bar – diese Geschichte glaubte ihm niemand –, allein vor einem vollen oder halbvollen Glas und einer Viertelliterflasche Zahlawi-Arrak saß. Dann erschien das Bild des kleinen Mädchens vor ihm, wie es sich mit einer Hand am Hals kratzte, mit der anderen ein Stück Kuchen abschnitt. Das Stück fiel zu Boden, und eine Menge Nägel rollten heraus. Gleichzeitig zeichnete sich ein anderes Bild des kleinen Mädchens vor seinem inneren Auge ab: Es hatte grüne Augen, blonde Zöpfe und trug ein blaues T-Shirt. Er erinnerte sich an die kleineSchülerin, an ihr Lachen. Und er hatte ein altes Lied im Ohr. Es war ihm in Erinnerung geblieben, als er vor langer Zeit angefangen hatte, Englisch zu lernen und einen dieser Schwarzweißfilme gesehen hatte: »We never reached Georgia.« Später hatte er dieses Lied zufällig von einer CD gehört, die in einem Laden in der Chajjam-Straße abgespielt wurde. Sobald er dieses Lied vernahm, erinnerte er sich an das Mädchen.
    Ganz gleich, wo er war, es konnte auf dem Heimweg sein, im Bus, mitten im Gedränge von Menschen, die nach fauligem Schweiß und ekligem Atem stanken. Wann immer er seiner inneren Stimme lauschte, der anderen Stimme, der zweiten, dritten, vierten ..., überkam ihn eine Art schwermütiger Trauer. Er legte die Hände an die Brust oder auf die Schultern, kratzte sich am Kopf oder fuhr sich durchs Haar. Dabei sagte er sich: »Wenn mir irgendjemand, wenigstens Sarab, glauben würde, dass die Geschichte mit dem Mädchen wirklich geschehen ist und ich nicht der Mörder bin, könnte ich die Angelegenheit vielleicht vergessen.«
    Wenn er allein war, vor allem mitten in der Nacht, oder wenn er in den ersten Morgenstunden erschreckt aufwachte, wurde ihm schmerzlich bewusst, dass er sein Verhalten ändern musste. Die anderen hatten durchaus recht mit dem, was sie sagten. Vielleicht war er wirklich ein Mörder. Vielleicht wollte er mit dem Erzählen von Geschichten nur die Geschichte von seinem Verbrechen und seiner Sünde wegerzählen. In jeder anderen seiner Geschichten entwarf er einen speziellen Plan, um vor seinen Opfern zu fliehen: »Der jüngste Tag ist angebrochen, und der Mörder muss seine Schulden begleichen«, wie die Stimme sagte. Was wäre, wenn Sarab ihr glaubte? Wenn sie ihn bat, sich an genau diese Geschichte zu erinnern? Würde er zum ersten Mal die Geschichte des Liedes vergessen, die Geschichte des kleinen Mädchens mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt, dieGeschichte seines Bruders, die Geschichte von Mariam und den vier Töchtern?
    Er streckte seine Hand nach dem Wasserglas aus, das auf der kleinen Kommode am Kopfende seines Bettes stand, und führte es an den Mund. Es war leer. Offensichtlich hatte er es in der vergangenen Nacht ausgetrunken. Er stellte das Glas an seinen Platz zurück, öffnete die Augen und richtete sich langsam auf. Er setzte sich auf

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