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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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andere Persönlichkeit zugelegt hatte? Was, wenn der andere sogar aufdeckte, was Jussif seit all den Jahren vor sich selbst verbarg? Was, wenn der andere ihn vor anderen Menschen als Lügner bloßstellte, wenn dieser andere »sichere Beweise« zur Hand hatte, wie er in einem der Anrufe betonte?
    Es fiel Jussif schwer, einen Entschluss zu fassen. Wann immer er daran dachte, alles zu klären, zögerte er. Doch der Besitzer dieser merkwürdig klingenden Stimme begann ihn heimzusuchen. Schlimmer als je zuvor überrumpelte er ihn im Traum und beherrschte ihn nächtelang immer drängender und fordernder, als würde er sich Nacht für Nacht näher an ihn herantasten. Diese Person schrie nicht von der Tür oder vom Fenster aus, sondern befand sich im Bett, direkt an seinem Kopf. Er konnte ihm nicht entkommen.
    Es war sinnlos, feige zu sein, wie sonst immer. Die letzten zwölf Jahre, die Jahre des Vergessens, waren nur die tägliche Vorbereitung auf die Begegnung gewesen, die zwischen den beiden stattfinden musste: zwischen ihm und dem Phantom, das seinen Namen trug und ihn zwang, sich an seinen Bruder zu erinnern. Machte er weiter wie bisher, so bedeutete dies Selbstmord für ihn und Mord an seiner Frau Sarab. Denn erwar sicher, dass sie zu ihm zurückkehren und ihm seine alten Geschichten verzeihen würde: Einer von uns muss sich verstecken. Es gibt keinen Platz für uns beide!
    Dies dachte er in der vergangenen Nacht, als die Stimme sich in ein Dröhnen in seinem Kopf verwandelte, lauter als die Explosionen der gesprengten Autos, die man täglich in den Straßen der Stadt hörte. Das Dröhnen zersplitterte in seinem Kopf zu einer schnellen und regelmäßigen Folge von knallenden Geräuschen, die ihn nur in kurzen Phasen schlafen ließen. Er zitterte vor Angst, sein Mund war trocken, er wälzte sich im Bett hin und her, und das Echo der Stimme verfolgte ihn. Im selben Rhythmus wie sein Pulsschlag wiederholte es sich wieder und wieder: »Der jüngste Tag ist angebrochen, und der Mörder muss seine Schulden begleichen.«
    Dann kam eine andere Nacht, voller Albträume wie die Nacht zuvor, eine Nacht ohne Worte außer diesem einen Satz, der ihm im selben Atemzug befahl aufzustehen. Auch dieser seltsame Ruf wiederholte sich wie der Albtraum, der häufiger auftrat als andere Albträume, fünf-oder sechsmal. Die Häufigkeit genau anzugeben fiel ihm schwer, vielleicht war es ihm gar nicht möglich, sie zu durchschauen. Seit dieser Albtraum ihn zum ersten Mal heimgesucht hatte, vermischte sich alles vor seinen Augen, bis das Bild, das er sich vom Besitzer der Stimme, von seiner angenommenen Gestalt zu machen versuchte, sich in sich selbst verlor. Es gewann keine Beständigkeit, sondern verwandelte sich stets in andere Personen. In vollkommenem Chaos nahm es so viele Schemen an, wie sein Bruder mit der eigenen Hand Masken angefertigt hatte. Das Gebilde konnte alles Mögliche sein, nur nicht das Gesicht seines Bruders. Warum wurde es nicht zum Antlitz seines Bruders? Hatte er es vergessen? Oder wollte er – wie als Knabe nach dem Tod des Mädchens – einfach nicht glauben, dass sein Bruder ein Mörder war? Oder war es wie beim Blick in denSpiegel, weil mit jedem Gedanken an ihn dasselbe Bild vor seinem inneren Auge auftauchte? Denn gerade er hatte dem Mädchen den Kuchen geschenkt, der es tötete! War dies nicht Anlass, dass er an die Existenz einer Person glaubte, die von seiner Unschuld wusste? Die wusste, dass sein Bruder der Mörder war? Wollte diese Person jetzt mit ihm eine Rechnung begleichen, weil sie nicht wusste, dass er unter dem Namen seines Bruders lebte? Wie sollte er seine Unschuld beweisen?
    Jussif versuchte, sich die Gesichter ihm bekannter Personen vorzustellen. Einige hatte er seit der Kindheit, seit der Grundschule, nicht mehr gesehen. Andere kannte er aus den Tagen des Universitätsstudiums oder des Militärdienstes, wieder andere, seine Arbeitskollegen etwa, erst seit kurzer Zeit. Es waren aber auch die Gesichter Unbekannter darunter: Passanten, denen er auf dem Weg zum Büro oder beim Verlassen des Büros begegnete. Die meisten anderen kannte er aus der geheimen Bar: der Mekka-Bar (die eigentlich nur wenige Besucher so nannten). Andere Gesichter gehörten zu Schauspielern, die er im Fernsehen oder auf der Kinoleinwand gesehen hatte, ausländische und einheimische Schauspieler, die sich der Leinwand seiner Erinnerung eingeprägt hatten. Wieder andere gehörten Politikern der verschiedensten Nationen oder

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