Jussifs Gesichter
den Bettrand und warf einen Blick auf den Wecker mit dem phosphoreszierenden Zifferblatt. Seine Zeiger leuchteten und zeigten vier Uhr morgens an. Der Morgen hatte also noch nicht richtig begonnen, wie er im ersten Moment gedacht hatte, es war noch vollkommen dunkel. Er wollte kein Licht machen, um Sarab nicht in ihrem Schlaf zu stören. Also stand er auf und ging auf Zehenspitzen in den Salon. Dort zündete er die Kerze an, die auf dem kleinen Tisch neben dem Kassettenrekorder stand.
Der Salon öffnete sich zum Schlafzimmer, so dass er von dort aus auch das Bett sehen konnte, das Ehebett. Er sah Sarab in ihrem Schlaf, so wie er sie früher, in den Tagen des Krieges und der Krankheit, kennen gelernt hatte. Das Kerzenlicht ließ sie ruhiger aussehen. Und nicht zum ersten Mal dachte er, dass dieses Licht sie niemals stören würde. Sie schien noch tiefer zu schlafen, wenn das matte Licht im Zimmer tanzte.
Wie gern hätte er sie jetzt zu sich geholt, sie angeschaut und geküsst. Er wollte ihr sagen, dass die fünfundzwanzig Jahre des Betrugs und der Lüge wirklich vorbei seien! Und er wollte ihr erklären, dass es ihm schwerfalle, diese Geschichte zu vergessen. Wie sehr wünschte er sich, dass sie nicht wieder sagen würde: »Du hast diese Worte schon so oft ausgesprochen und gesagt, es sei das Ende der Welt!« Er wusste, dass er sie anlächeln und antworten würde: »Das stimmt nicht, Liebste. So etwas habe ich nie zuvor gesagt. Ich habe doch erst letzte Nacht die Stimme gehört. Sie hat mich besucht und mir stockend erklärt,dass mein Ende naht. Der Besitzer der Stimme wird mich töten, wenn ich nicht erfülle, was er von mir verlangt. Anscheinend muss ich irgendeine Rechnung für ihn begleichen. Aber ich weiß nicht, ob mir das gelingen wird! Ich hoffe, dass ich niemandem etwas schulde.« Dann würde sie gewiss schweigen und ihm glauben.
Jetzt, mitten in der Nacht oder am frühen Morgen in der zweiten Aprilwoche, erinnerte er sich daran, wie sie zum ersten Mal in diesem Salon gesessen hatten. Direkt vor ihm hing ein großes Foto von ihnen an der Wand: Lachend saßen sie auf demselben Sofa, auf dem er jetzt saß. Sie hatte den Kopf an seine linke Schulter gelehnt. Es war das erste Foto, das sie mit der automatischen Kamera aufgenommen hatten, ein Hochzeitsgeschenk ihres Vaters. An diesem Tag hatten sie auch das Haus zum ersten Mal betreten. Ihr Vater hatte es in dem einfachen, dicht besiedelten Viertel hinter dem Museumsplatz entdeckt und für sie gemietet, bevor sie in ihr zweites Haus in Batawain umzogen. Dies geschah in einer Zeit, als Jussif nicht mehr die Kraft besaß, seine Heimlichtuerei weiter zu betreiben. Er hatte die Fälschung seiner Personalpapiere und seine Fahnenflucht damals nicht deshalb vor ihr verschleiert, weil er fürchtete, sie würde ihm nicht glauben. Vielmehr wollte er sie nicht in die Sache hineinziehen und sie auf keinen Fall beunruhigen. Es war wie beim Versteckspiel von Kindern: Eines Tages musste man vom Schatten ins Licht treten und sich zeigen. Als Jussif merkte, dass Sarabs Vater einen Verdacht hegte, beschloss er, ihr zu enthüllen, dass er sie unter falschem Namen geheiratet hatte. Er hieß nicht Harun Wali, sondern Jussif Mani.
Alles – die Hochzeit, das Mieten des Hauses – musste fast heimlich geschehen. Sie hatten zwar nichts verlautbaren lassen, aber Onkel ’Assim, Sarabs Vater, munkelte, dass es dennoch Schwierigkeiten geben könnte. Sie sollten sich aber keineSorgen machen, denn Sarabs Vater, der seit den Vierzigerjahren über die politische Arbeit im Untergrund Bescheid wusste, verfügte – wie er stolz behauptete – über einige Erfahrung. Wenn sie die Angelegenheit ihm überließen, würde er sie regeln. Auf die Frage, warum sie ausgerechnet ein Haus im dicht besiedelten Museumsviertel beziehen sollten, lautete die Antwort: Wenn sich jemand verstecken wolle, dürfe er sich nicht verstecken. Er selbst hatte in den Vierzigerjahren als Schneider für den Gründer der Kommunistischen Partei, Fahd, gearbeitet. Gleichzeitig war er aber auch für Nuri al-Sa’id tätig gewesen, einen den Engländern nahestehenden Politiker, der später Regierungschef wurde, bevor das putschende Militär ihn zusammen mit der königlichen Familie Mitte Juli 1958 umbrachte. Auch die meisten anderen Regierungspolitiker hätten sich bei ihm ihre Kleider schneidern lassen. Doch irgendwann hatte er seinen Laden dichtgemacht und war Lokomotivführer geworden. Später hatte er seine Zeit damit
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