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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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Händlern, denen er auf dem Markt begegnet war. Und auch die Gesichter der Ärzte, die ihn all die Jahre behandelt hatten, waren ihm gegenwärtig. Hunderte Gesichter der verschiedensten Prägung.
    Immer aber war es ein männliches Gesicht, das auftauchte und sich schnell in der Dunkelheit des kleinen Zimmers verlor. In diesem Zimmer vernahm er auch die Seufzer seiner Frau Sarab, die neben ihm zu schlafen versuchte. Denn der Schweiß, der von seinem Körper rann und sich auf dem Bett verteilte, blieb nicht auf seiner Seite, sondern breitete sich bis zu Sarabs Seite des Bettes aus. Vielleicht hatte er beschlossen, jede Nacht den Kassettenrekorder auf dem Tisch im Salon laufen zu lassen,um damit die seltsamen Stimmen aufzuzeichnen. Schon nach kurzer Zeit musste er allerdings feststellen, dass es sich dabei um ein vergebliches Unterfangen handelte. Er hörte nur ein Knistern und Flüstern auf der Kassette, ein nichtssagendes Murmeln, das sich ständig wiederholte. Es ließ ein Echo zurück, das aus den Tiefen eines schweren Traums aufstieg und sich in seinen Ohren einnistete. Es drang wie alte Erinnerungen auf ihn ein, wie zusammenhanglos geschnittene Bilder aus alten Kriminal-und Liebesfilmen oder schwarzweißen Actionfilmen, nach denen er als Junge so süchtig war.
    Wann immer er versuchte, sich an diese gebrochenen Geschehnisse zu erinnern, fühlte er sich wie jemand, der mit ungeheurer Mühe einen Traum erzählt, den er von jemand anderem gehört hat. Es ist nicht dieser Jussif Mani, der ständig vor Schreck zusammenzuckt, der vor seinem Namen auf der Flucht ist. Diesmal wird er eines Mordes verdächtigt, der – viel schrecklicher als zuvor – in der Morgendämmerung der vergangenen Nacht geschah. Diesmal fügt die Stimme einen neuen Satz hinzu, einen Satz, der eine Warnung in sich trägt: »Der jüngste Tag ist angebrochen, und der Mörder muss seine Schulden begleichen.«
    Jussif erinnerte sich anschließend nicht mehr genau, ob das Telefon wirklich so spät in der Nacht klingelte und er diese Worte durch den Hörer vernahm oder ob sich alles nur in einem Traum abspielte. Er wusste allerdings, dass er die Worte erst vor kurzem gehört hatte. Sie hatten ihn unter Druck gesetzt und sich wie sein Albtraum ständig wiederholt. Aber wie sollte er seine Unschuld beweisen? Er brauchte dringend ein paar einfache Dokumente als gedruckte Beweise, nicht für sich selbst, sondern für die anderen. Vor allem Sarab sollte ihm endlich vertrauen, damit sie nicht irgendwann dem Besitzer der Stimme glaubte. Also musste er ihr endlich klarmachen, dass er das Mädchen nicht getötet hatte.
    Er musste etwas tun. Seine Freunde rieten ihm, der Einsamkeit zu entfliehen und das Haus zu verlassen. Er sollte wieder in sein Büro zurückkehren, bevor er sich noch mehr verlor und endgültig zerstörte. Er hatte schon Sarab genug gequält. Er musste ihr dankbar sein, dass sie ihn ertrug und akzeptierte. Auch weil sie keine Kinder hatten, hätte ihn jede andere Frau schon längst verlassen. Seine seltsamen Geschichten hörte sie sich immer wieder an, weil sie ihn liebte.
    Gewiss widerfuhr ihm das nicht allein, ihm, der krank im Kopf war, wie die anderen behaupteten. Nur verheimlichten es die anderen Menschen. Er allein hatte den Mut, offen darüber zu sprechen. Erst in den letzten Jahren begann man offener über die vergangenen Jahre zusprechen. Plötzlich tauchten Geschichten auf, die in den Cafés diskutiert und schließlich in den Zeitungen veröffentlicht wurden. Geschichten über gefälschte Identitäten, über Namensdiebstahl. Manche Geschichten entsprangen eher der Phantasie als der Wirklichkeit. Aber sie wurden geglaubt, mit Ausnahme einer einzigen: der Geschichte des Stimmenbesitzers, der von Jussif die Rückgabe seines Namens und seiner Persönlichkeit verlangte. Diese Geschichte erregte nichts als Zweifel bei ihren Hörern, besonders bei Sarab. Und sie klang jedes Mal anders. Selbst wenn Jussif dieselbe Geschichte erzählte, so doch jeweils auf andere Art und Weise. Es war, als hätte er selbst vergessen, dass er die Geschichte erst vor wenigen Tagen, ja Stunden, schon einmal erzählt hatte. Wenn er unsicher war, ob seine Erzählung tatsächlich stattgefunden habe, nahm er Zuflucht zu einer beliebten Ausrede: dem Traum. Das Wichtigste war, dass Sarab ihm glaubte. Vor allem zu Beginn ihrer Bekanntschaft gab er sich die größte Mühe, die Wahrheit zu verbergen, weil er ihr nicht sagen wollte, dass er einen falschen Namen trage, seit

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