Jussifs Gesichter
verbracht, am Eingang des alten internationalen Bahnhofs herumzulungern. Er war nicht ganz dicht im Kopf.
Dies geschah an einem Frühlingstag, dem 21. März, um genau zu sein. (Jussif war bekannt für seine Leidenschaft für exakte Daten. Es war eine Gewohnheit, die er von seinem Großvater erlernt hatte, einem Dattelinspektor in der Dattelcompany in Basra. Dieser pflegte ein kleines Heft in seiner Jackentasche mit sich herumzutragen, in das er alle Daten eintrug, die ihm wichtig erschienen.) Er erinnerte sich nicht nur wegen seiner Leidenschaft für exakte Daten an diesen Tag, sondern auch weil er gemeinsam mit Sarab beschlossen hatte, diesen Tag jährlich zu feiern. Am 21. März 1979 hatten sie sich auf dem letztmalig gefeierten Nouruz-Fest kennen gelernt, bevor die Regierung es den Kurden grundsätzlich untersagte. Sie saßen im Café im Garten des British Council in Bagdad. Er war erst vor kurzem aus seiner Einheit desertiert und mit ein paarFreunden von der Akademie der Schönen Künste gekommen, die nichts von seiner Fahnenflucht wussten. Sarab erinnerte sich an einen mageren jungen Mann mit großen Augen, breitem Mund und ausgeprägter Nase. »Er näherte sich mir, und als er meinen Namen hörte, sagte er: ›Seit meiner Kindheit habe ich diesen Namen wieder und wieder gehört: Sarab .‹ Und er fügte fröhlich hinzu: ›Darf ich Sie auf ein Glas Tee einladen?‹« Von diesem Tag an stach Jussifs Gesicht für sie aus der Schar seiner Freunde im Garten des British Council heraus. Sie trug ein blaues T-Shirt. Schließlich begann er sich so zu benehmen, als sei er sicher, dass sie das kleine Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt sei, nach dem er seit den Tagen der Grundschule suchte.
»Es gibt Momente, in denen eine Geste dem gesamten Geschehen eine andere Richtung gibt, eine einzige Geste«, sagte er mit dem Brustton der Überzeugung zu sich selbst und fügte noch einen weiteren Satz hinzu, den er irgendwo gehört hatte: »Es gibt keine Wirklichkeit ohne Zufall.«
Es ist seltsam, wie das Gedächtnis die Bilder auswählt, an die es sich erinnern will. Zum Beispiel das Bild eines jungen Mannes, der auf Sarab zugeht, die an einem schönen Tag im Gartencafé des British Council sitzt. Wie viele andere Bilder auch, ist es nicht nur in ihrem, sondern auch in seinem Gedächtnis gespeichert. Und wenn sie sich daran erinnern oder darüber sprechen, erscheint es wie greifbare Wirklichkeit, als geschehe es jetzt, im Moment des Erinnerns. Oft sagte er zu ihr: »Dies ist die wirklichste aller Geschichten.« Aber warum ausgerechnet dieses Bild?
Oft fragte Jussif sich, was eigentlich das Vergessen sei. Man sagt, es sei die andere Seite des Erinnerns. Aber kann einem diese Antwort wirklich Trost bieten? Warum will man sich unbedingt an dieses Bild erinnern und jenes löschen? Wer sagt, dass das Bild, das wir auswählen und viele Male erzählen, jaunbedingt erzählen müssen, uns tatsächlich erschienen ist? Was bringt uns dazu, es mit einer solchen Aufrichtigkeit zu erzählen? Warum wiederholen wir eine Geschichte, wenn wir entdecken, dass wir sie schon etliche Male mit einer anderen Geschichte, die jemand anderem widerfahren ist, vertauscht haben? Vertauschen wir uns nicht selbst mit jemand anderem und setzen uns an dessen Stelle? Ist es nicht der dringende Wunsch eines jeden, sich in eine andere Person hineinzuversetzen? Möchte nicht jedes menschliche Wesen ein Schauspieler sein? Und beneiden wir nicht die Schauspieler, die sich tagtäglich in andere hineinversetzen dürfen?
Diese Geschichten haben weder Anfang noch Ende. Sie können an irgendeinem Punkt anfangen. Was wir für das Ende halten, ist nur eine neue Falle im weiteren Verlauf der Geschichte, und sie geht weiter und weiter. Wer glaubt, dass »Tausendundeine Nacht« nach der tausendundersten Nacht endet, der irrt. Er wird schnell feststellen, dass die Bilder, die diese Geschichten hervorbringen, sich fortpflanzen. Bild erschafft Bild, Geschichte erschafft Geschichte, Identität erschafft Identität, Fälschung erschafft Fälschung, Lüge erschafft Lüge, Erinnerung erschafft Erinnerung.
Das Erinnern ist ein Wunder, sagte sich Jussif. Selbst wenn man sich erinnert, weiß man doch nicht, dass die Erinnerung sich fortpflanzt. Es mögen Hartnäckigkeit oder Enttäuschung, Traurigkeit oder Hoffnungslosigkeit, Sehnsucht oder Verlust, Bitterkeit oder Verwundung sein, die den Menschen dazu bringen, auf dem Erinnern an dieses Bild
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