Jussifs Gesichter
vergessen, ich war es, der den Doppelgänger in Ihnen erfunden hat.«
»Sie irren sich, ganz sicher«, unterbrach Jussif und fügte schnell hinzu, als wolle er den Erzähler daran hindern, weitere Kommentare oder Fragen anzuschließen: »Sie erwähnten, Ihr Freund sei ein talentierter Geschichtenerzähler gewesen und habe dafür eine besondere Technik entwickelt.«
»Er nahm Geschichten von überallher, aber meistens hatten sie kein Ende. Irgendwie verlangten die Geschichten immer eine Ergänzung. Vielleicht achtete er deshalb darauf, sein wirkliches Schicksal oder das Ziel seiner Bemühungen nicht zu enthüllen. Vielleicht wollte er auch nur das verschweigen, was zu hören man von ihm erwartete, und suchte in dieser Art von Geschichten seine Zuflucht. Man behauptet, seine Geschichten entbehrten der Wahrheit. Aber sie übertreffen die Wahrheit, weil sie uns helfen, die Wahrheit zu verstehen.«
»Dann ist er also ein geschickter Lügner.«
Der Erzähler starrte ihn lange an und murmelte schließlich: »Oder es ging ihm nur um den tiefgründigen Sinn der Geschichte. Wer weiß?«
Vielleicht war auch dies nur eine Finte, diesmal von Seiten des Erzählers. Jussif entdeckte in seinen Blicken etwas wie ein Urteil.
»Auch Sie scheinen wie mein Freund Harun Wali alles vermeiden zu wollen, was als Lüge angesehen werden könnte.«
»Ja, vielleicht haben Sie recht. Aber es gibt eine Geschichte, die sich tatsächlich zugetragen hat und die ich den anderen nicht erzählt habe.«
Der Erzähler richtete seine Augen dabei aufmerksam auf ihn, als wolle er sein Verhalten durchschauen. Dann fuhr erfort: »Eines Tages erzählte mein Freund mir ohne jeden Anlass die Geschichte seines Bruders. Wie die anderen Patienten auch, hatte ich ihn nie nach irgendetwas gefragt. Schließlich kam er zu mir, um sich einen falschen Ausweis ausstellen zu lassen. Ich erinnere mich, dass er nicht einmal seinen Namen erwähnte; er sprach einfach von ›meinem großen Bruder‹. Er gab vor, einen älteren Bruder zu haben, der von Kindheit an seinen Kopf durchsetzen wollte. Man müsse sich nur den Bürgermeister in schönen Comic-Filmen vorstellen, um ihn vor Augen zu haben. (Ich erinnere mich an einen dieser Comic-Filme, die unser zweiter lokaler Fernsehkanal damals ausstrahlte.) Er berichtete, eines Tages sei der Bürgermeister mit einem der Weisen des Dorfes spazieren gegangen. Weil er so ruppig mit den Menschen umgegangen sei, hätten sie ihn gebeten, sich zu ändern. ›Warum sollte er nicht großherzig sein? Schauen Sie sich beispielsweise den Mond an: Er leuchtet für alle Menschen, nicht nur für Sie allein! Warum sollte man nicht sein wie der Mond?‹ Diese Worte hätten dem Bürgermeister natürlich überhaupt nicht gefallen. Er sei auf den Balkon vor seinem Schlafzimmer getreten, hätte den Mond betrachtet und ausgerufen: ›Nein! Es ist unmöglich. Der Mond ist nicht für alle Menschen da. Er leuchtet für mich ganz allein!‹ Er habe seinen Stuhl genommen und auf einen anderen Stuhl gestellt und wollte weitere Stühle holen, bis er den Mond hätte erreichen können. Aber der Stuhl sei ihm in den Garten gefallen. Am nächsten Tag habe er allen Dorfbewohnern befohlen, ihm alle Stühle aus ihren Häusern zu bringen und zu einem Turm aufeinanderzustapeln ... Ich erinnere mich, dass Jussif damals lachte und hinzufügte: ›Sie müssen die Geschichte zu Ende erzählen!‹ Das war sein Lieblingssatz, mit dem er jede Geschichte besiegelte. Wenn er eine Geschichte erzählte oder über einen Menschen sprach, verknüpfte er seine Worte mit irgendeiner Filmgeschichte oder einem Volksmärchen. Auf dieseWeise gab er viele Geschichten zum Besten, die ich im Kopf zu Ende spann.«
Der Erzähler hielt kurz inne, dann fuhr er fort.
»Ich erinnere mich an eine seiner Geschichten, die mehr als andere in meinem Gedächtnis hängen blieb. Er erzählte, wie ihn Namensangelegenheiten schon lange, besser gesagt: seit seiner Kindheit, beschäftigt hätten.
Damals hatten sie einen eleganten Lehrer in der Schule mit einem Schnurrbart wie Clark Gable und einem Haarschnitt wie Gregory Peck. Salam war sein Vorname. Eigentlich war er nur Sportlehrer, bis er auch die Theaterklasse übernahm. Salam habe die Begabung des Jungen erkannt und ihn aufgefordert mitzuspielen. Gleichzeitig spielte ein behinderter Junge mit, der die Rolle eines Behinderten übernahm. Eigentlich keine schwierige Rolle für den Jungen, nur eine Partie, immerhin aber in einer wichtigen Szene. Der
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