Jussifs Gesichter
seines Bruders, Junis des Henkers die halbe Titelseite einnahm. Unter dem Interview war ein Foto abgebildet, auf dem er neben zwei anderen Männern zu sehen war. Daneben stand fettgedruckt: Der Verbrecher Junis Mani flüchtete mit zwei Begleitern aus der Nervenheilanstalt .
»Wissen Sie jetzt, warum ich immer zu Hause sitze und mich nicht zu bewegen wage?«, fragte er den Erzähler und nahm einen weiteren Schluck aus seinem Glas. »Weil ich Angst habe, getötet zu werden!«
»Der Tod lauert uns allen auf«, höhnte der Erzähler. »Am Land der Siegreichen und der Gedemütigten, wie Sie es gern nennen, hat jeder von uns seinen Anteil, seit alle sich auf gerechte Weise verändert haben: in Jäger und Opferlämmer.«
Jussif schwieg und nahm noch einen Schluck. Dann holte er einen Zettel aus der Hemdtasche. Es war, als wolle er eine Passage aus einem Theaterstück vorlesen, das er in seinem Kopf in Szene gesetzt hatte. Er war geistesabwesend, nur seine Lippen murmelten: »Er hatte einen langen Weg zurückgelegt und war einen Augenblick stehen geblieben. Langsam atmete er und blickte vor sich. Da entdeckte er in der Ferne das Haus, in das er zurückkehren wollte, genau am Ende der breiten Straße, an deren Anfang er stand. Er sah die von ihm ausgehenden matten Lichter. Da beschloss er, loszugehen, und eilte auf die Gartenmauer zu. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis ihm bewusst wurde, dass nicht er sich den Lichtern, sondern sie sich ihm näherten. Sie verwandelten sich mit einer seinen hechelnden Atem übersteigenden Geschwindigkeit in ein glühendesStrahlenbündel, das sich mit dem heißen, aus seinem Kopf sickernden Blut vermischte. Sein Atem ging immer hastiger, als wolle er sich dem Peitschen der Schüsse anpassen: dum, dum, dum ... dum ... die Schüsse, die ihn trafen, als er mit letzter Kraft über die Mauer in den Garten seines Hauses sprang.
Bis zu dem Moment, da er auf dem Boden aufprallte und sein Körper in das weiche Gras sank, hatte er es für unmöglich gehalten, dass ein anderes Leben in ihn fahren würde. Er war überzeugt, sterben zu müssen, der Gedanke an den Tod störte ihn nicht. Vielmehr hatte er sich seinen Tod, seine Todesart schon oft ausgemalt. Aber er hatte nicht damit gerechnet, hier zu sterben. Alles kam anders als erwartet. Der Tod ereilte ihn nicht, wie er ihn erwartet hatte, an einer Kreuzung oder im Haus oder während er im Café oder im Kino saß, nicht auf all seinen Streifzügen in der vorherigen Nacht oder davor. Er hatte an jeder Straßenecke gewartet, ihn auf Schritt und Tritt begleitet. Und wenn er ihm entronnen zu sein meinte, trieb er ihn an, weiterzugehen, um ihn aufzuspüren. Es war, als flüchte er vor dem Tod zu ihm hin, als sei er auf der Suche nach dem Tod, um für immer mit ihm abzuschließen. In all diesen Momenten stellte er sich vor, wie die Mündung eines Revolvers auf ihn gerichtet wäre: des Revolvers seines Bruders. Er wusste, dass er durch einen Schuss aus diesem Revolver sterben würde, abgefeuert mit kalter Hand, als hätte er, sein Bruder, sich an den ihm zugefügten Schmerzen noch nicht genug geweidet. Wie oft hatte er sich seinen Tod vorgestellt! Aber er hätte sich nie träumen lassen, dass er so sinnlos sterben würde – in einer Morgendämmerung der zweiten Aprilwoche. Dass er im Moment seines Eintreffens bei dem besagten Haus sterben würde, das er für das Haus hielt, in dem er mit Sarab gelebt hatte. Dass zwei verrückte Männer ihn töten würden, vor denen er geflüchtet war, seit er ihre verzweifelten Blicke auf der Suche nach einem Opfer, das ihnen Trost bringen sollte unddem sie überall hin folgten, zum ersten Mal gesehen hatte. Er hatte keine Ahnung, ob sein Bruder die beiden angeheuert hatte, um ihn abknallen zu lassen. Vielleicht hatte er sie schon zu ihm ins Irrenhaus geschickt, um ihn dort ermorden zu lassen. Oder hielten die beiden ihn tatsächlich für den Henker, nach dem gefahndet wurde? Im Augenblick seines scheinbaren Übergangs vom Diesseits ins Jenseits spürte er die Hitze des Blutes und die Klebrigkeit seines Körpers. Als er ein ihm unbekanntes kleines Mädchen sah, durchfuhr ihn wieder ein seltsames Gefühl. Das Mädchen stürzte an seinen zugedeckten, mit Blut befleckten Körper heran. Anders als zunächst angenommen war sie nicht das kleine Mädchen, an das er sich stets erinnert hatte – das kleine Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt. Als er ihr Schluchzen vernahm, fragte er sich,
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