Jussifs Gesichter
unternahm, beschloss eine Bande unter der Führung des älteren Bruders, das Mädchen zu töten. Der ältere Bruder füllte heimlich einen Kuchen mit Nägeln, den der jüngere Bruder als Leckerbissen für das Mädchen mit auf den Ausflug nehmen wollte. Das kleine Mädchen starb also durch seine Hand, während der Junge durchdrehte.
Dies ist die Kurzfassung des Theaterstücks, das sie im Veranstaltungssaal des städtischen Erziehungssamtes vorführen sollten.
Wenige Wochen vor Aufführung des Stücks kam jedoch ein neuer Englischlehrer an ihre Schule, der ein kleines Mädchen mit grünen Augen, blonden Zöpfen und einem blauen T-Shirt mitbrachte. Ihr Name war ebenfalls Sarab. Seltsamerweise ereignete sich das Gleiche wie auf der Bühne auch in der Schule. Der Junge wusste nicht, ob er durch seine Rolle in dem Theaterstück das Schicksal des Mädchens vorwegnahm und so ihren späteren Tod verursachte oder ob das Theaterstück seine Geschichte und damit auch die des kleinen Mädchens mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt erzählte, bevor die Geschichte sich tatsächlich vollzog, als ob das Leben der Literatur nacheiferte. Wenn der Name des kleinen Mädchens, der Tochter des Englischlehrers, nicht dem des Mädchens in dem Theaterstück oder der Geschichte entsprochen hätte, wäre vielleicht nicht geschehen, was geschah. Oder war die Geschichte vor langer Zeit Schülern wie ihnen zugestoßen? Seit jenen Tagen fragte er sich, ob wir allesamt seit Menschengedenken in die Luft gemeißelte Namensphantome seien oder ob wir uns nur die Rollen von Personen zu eigen machten. Um das zu versuchen und das schlechte Gewissen zu vertreiben, das mehr schmerze als das Begehen eines Verbrechens an sich, fing er an zu träumen, ein anderer zu sein, mehr als eine Person, oder die aus vier Buchstaben (wie sein Name) geschaffene Person, von denen jeder Buchstabe eine andere Person schaffe. Ich habe ihn damals nicht gefragt, was er mit den vier, jeweils einen Namen schaffenden Buchstaben meine: den Namen seines Bruders, seinen eigenen Namen oder den Namen des kleinen Mädchens mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt. 1
1 Die Namen Jussif, Junis, Mariam und Sarab werden im Arabischen, da die kurzen Vokale nicht geschrieben werden, jeweils nur mit vier Buchstaben geschrieben.
Ich habe nicht weiternachgeforscht, als hätte ich ihm oder den Geschichten, die er erzählte, die Sache überlassen wollen. Ich nehme an, der zweite Grund ist der wesentliche, denn irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass er mehrere Namen trug. Über die Geschichten mussten Kriege, Gefängnisse, Tod, Zerstörung und Vertreibung hinwegziehen, damit sie sich selbst Stück für Stück enthüllten, wobei sie sich in ihr Gegenteil verkehrten und einfach, leicht verständlich werden sollten, nicht unbedingt für alle Menschen, aber wenigstens für mich. Ich musste die Sache selbstverständlich finden. In einem Land wie diesem, dem Land der Siegreichen und der Gedemütigten – für die Beschreibung des Landes waren dies seine Lieblingsworte –, ist es nicht verwunderlich, wenn die Menschen mehrere Namen tragen.«
Jussif schwieg die ganze Zeit und hörte andächtig zu. Es war, als vergleiche er die Worte des Erzählers mit den anderen Geschichten, die in seinem Kopf herumspukten.
Der Erzähler flüsterte: »Sein Bruder behauptete, dies sei nur eine weitere Lüge, die er, der Bruder, gern wiederholte: ›Ich habe das Mädchen nicht getötet! Weil es gar kein Mädchen gab!‹«
»Mein Bruder hat sogar die Foltergeschichte geleugnet, als ich wochenlang in der Folterkammer auf dem Boden lag«, ereiferte sich Jussif. »Er hat geleugnet, allen nur Schmerz und Zerstörung zugefügt zu haben, und vergessen, dass er seine vier Töchter nach den Schreien seiner Opfer in der Folterkammer benannt hat.«
Jussif brach in Tränen aus, und der Barkeeper brachte ihm ein weiteres Glas Arrak. »Jetzt wissen Sie, warum ich diese beiden verrückten Personen mitschleppe«, wandte er sich an den Erzähler. »Wir alle brauchen einen Vergessensapparat. Das gesamte Land muss sich erinnern, um vergessen zu können, mein Bruder zuallererst.«
In diesem Moment holte er die Zeitung aus der Hosentasche und warf sie dem Erzähler zu.
»Die haben Geschichten und Gespräche über die Verbrechen von Jussif Mani veröffentlicht.«
Dabei deutete er auf ein langes Interview, das unter der Überschrift Jussif Mani enthüllt die Verbrechen
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