Jussifs Gesichter
behinderte Junge sollte fliehen, wenn sich sein älterer, nicht behinderter Bruder näherte. Doch sein Bruder rief ihn und versuchte, ihm zu folgen. Der Junge hieß Musa, im Stück sollte er Harun heißen. Musa hatte den Namenswechsel nicht begriffen und den Regisseur gefragt, warum er Harun heißen solle. Das sei nun mal so, hieß es. Er müsse jetzt den ›Harun‹ darstellen, wie im Drehbuch vorgesehen, und ›Musa‹ vergessen. Musa war nicht überzeugt. Von der ersten Probe an hat er über dieses Problem nachgedacht. Eines Tages hat er den Regisseur gebeten, ihm eine andere Rolle zu geben, die Rolle des nicht behinderten Bruders. Anfänglich dachte der Regisseur, der Junge sei durchgedreht. Doch dann habe Musa vorgeschlagen, beide Rollen zu spielen: an einem Tag die des Behinderten, am anderen Tag die andere. Große Freude. Was dann geschehen sei, habe alle Vorstellungen übertroffen. Wenn Musa die Rolle des Nichtbehinderten gespielt hätte, hätte er sich wie ein Gesunder bewegt. Übernahm er die Rolle des Behinderten, sei er in seine Behinderungzurückgefallen. Nach Ende der Theatervorführungen sei er endgültig wieder der Behinderte namens Musa geworden.
In jener Nacht erschien mir diese Geschichte seltsam; sie gehörte zu vielen Geschichten, die er nachts erzählte. Als ich ihn fragte, warum er ausgerechnet jene Geschichte erzählt habe, fragte er zurück, wie ich mich denn auf eine noch seltsamere Geschichte hin verhalten würde. Dann berichtete er, ihm sei damals etwas Merkwürdiges widerfahren und er wisse nicht, ob es unter dem Einfluss von Musa geschehen sei oder sich auch ohne ihn zugetragen hätte. Ja, es sei wirklich erstaunlich gewesen. Oft laufen vor uns Ereignisse ab, die wir zuvor schon gesehen zu haben meinen oder deren Geschehen sich vor unseren Augen wiederhole. Genau dies habe er während der Proben für das Theaterstück erlebt, das sie zu Beginn des zweiten Halbjahrs hätten aufführen wollen.
Das Theaterstück behandelte die kurze Geschichte eines Jungen in der fünften Klasse Grundschule, eines in allen Fächern ausgezeichneten Schülers. Eines Tages betrat ein neuer Englischlehrer die Klasse, in seiner Begleitung ein kleines Mädchen mit dem Namen Sarab. Das kleine Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt verdrehte sofort allen Schülern in der Klasse den Kopf, darunter auch dem Jungen. In dem Moment, da das Mädchen das Klassenzimmer betrat, entstand eine Unruhe, die die Klasse ungewöhnlich lebendig machte. Sie hieß Sarab. Der Lehrer stellte den Schülern Fragen: Namen, Berufswünsche und Zukunftserwartungen. Als die Reihe an ihm war, vergaß der Junge seinen Namen und fing an zu stottern. Der Lehrer lachte und wollte wissen, was für ein seltsamer Hinterwäldler er sei. Am Ende aber wischte der Lehrer die Peinlichkeit mit einer Handbewegung weg. Vielleicht dachte er, der Schüler hätte den Namen wirklich vergessen. So überging er das Thema und fragte ihn, was er später werden wolle – Pilot, Arzt oder Ingenieur?
Da behauptete der Junge mit einem Blick auf das kleine Mädchen schlagfertig, er wolle ein Held werden. Der Lehrer lachte wieder, die ganze Klasse mit ihm, nur über das Gesicht des kleinen Mädchens huschte ein Lächeln.
Danach Englisch. Der Lehrer wollte den wichtigsten Satz nicht nur des Englischen, sondern aller Weltsprachen hören, einen Satz, der in die Geschichte eingegangen sei, nachdem ein »heldenhafter dänischer Prinz« ihn ausgesprochen habe. Derjenige, der den Satz an die Tafel schreiben könne, würde von den Prüfungen befreit werden. Langes Schweigen, kein Finger zu sehen. Nur Jussif ging nach vorn und schrieb fehlerlos: »To be or not to be: that is the question«. Die anderen Schüler klatschten Beifall, das kleine Mädchen am lautesten.
Von diesem Tag an fand der Lehrer Gefallen an dem Jungen und erhob auch keinen Einspruch, als er ihn während der Pausen zusammen mit dem Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt auf dem Schulhof, unter einem Lotusbaum, sitzen sah. Diese häufigen Treffen weckten jedoch den Neid der anderen Schüler, vor allem den des älteren Bruders des Jungen, der dem Mädchen den Hof machte. Er war allerdings auch die Zielscheibe des Spottes von Lehrer und Tochter, weil er, obwohl älter, immer noch in die fünfte Klasse ging. Wegen seiner schlechten Noten in Englisch war er mehrmals sitzen geblieben. Als die Schulklasse eines Tages einen Ausflug
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