Jussifs Gesichter
seine nächtlichen Streifzüge durch verlassene Orte wieder auf. Außer diesem in den frühen Morgenstunden endenden Herumstrolchen gab es nichts Wirkliches. Auch den ganzen Tag trödelte er umher, wandelte ziellosdahin und dorthin. Er hoffte, dem zweiten Mann, seinem Widersacher, zu begegnen. Wenn ihn die Suche am Tage erschöpfte, kehrte er am Nachmittag nach Hause zurück und schlief viele Stunden, um erst spät in der Nacht wieder aufzuwachen. In den letzten Tagen begann sein Widersacher, ihn spät in der Nacht zu besuchen. ›Der jüngste Tag ist angebrochen, und der Mörder muss seine Schulden begleichen.‹ Langsam und vorsichtig erhob er sich, weil er nur so seine Frau nicht zu wecken meinte, die, wir er immer noch annahm, neben ihm schlief. Dann ging er mit dem Kassettenrekorder, dem er seine Geheimnisse anvertraute und den er während des Schlafens auf dem Tisch im Salon stehen ließ, in die Bar, von der seine Frau einmal gesprochen hatte, weil sie dort zu später Nachtstunde oft ihren Vater aufgelesen hatte. Er wankte wie ein Schlafwandler und ahnte nichts von seinem Arzt, der ihn keine Sekunde aus den Augen ließ. Mit diesem Arzt war er eng verbunden, seit der sich einverstanden erklärte, den Namen seines Schriftstellerfreundes anzunehmen: Harun Wali. ›Und wenn dir das nicht reicht, werde ich dein Jugendgefährte sein, dein Freund aus Abenteuertagen, dein Freund, der Fälscher von Ausweisen, der durch die Verleumdung deines Bruders eingekerkert und umgebracht wurde: Josef Karmali oder Josef K. In mir vereinigen sich alle Freunde, die du verloren hast, jede Person, die du nur willst, solange wir uns nur gegenseitig vertrauen. Durch meine Geschichten werde ich dich heilen. Ich werde dir von deinem Schicksal berichten, als sei es einem anderen widerfahren. Ich werde dich beschützen und nicht zulassen, dass man dich ermordet. Es gibt sie noch, die noch nicht gehörten Geschichten. Wo auch immer du hingehst, ich werde dir folgen, ich werde immer an deiner Seite sein, und du wirst es nicht einmal merken. Ich werde zu dem von dir gesuchten Ich werden, und dich wird auch das nicht erstaunen. Wenn du mich findest, wirst auch du dich gefunden haben, wirst du ›JussifsGesichter‹ gefunden haben, wirst du zu ihm und zu dir zurückkehren. Danach wirst du den alten Koffer nicht mehr brauchen, den du wie eine Hütte mit dir herumschleppst.‹ Aber mein Freund, der ›Lügenbold‹, wandelte wie im Schlaf und bemerkte nichts von seiner Verfolgung. Nicht einmal die beiden mit ihm ins Krankenhaus eingelieferten Kameraden erkannte er während der Verfolgung – den verwirrten Offizier im Ruhestand und seinen Begleiter, den Soldaten, der einen Apparat zum Vergessen erfunden zu haben meint – auch sie folgten ihm, wo immer er hinging. Er versumpfte in der Bar, soff und soff und soff, bis er sternhagelvoll war. In diesem Zustand könnte er stundenlang vor sich hinstarren und am Ende sich selbst vergessen, ohne je herauszufinden, wer er ist, als bringe er einen einst selbst geträumten Traum zu Ende: Ist er die eine Person, die vor kurzem geträumt hat und dann hinausgewankt ist, um nach einer zweiten Person zu suchen? Oder ist er die zweite Person, die hier herumlungert und dem anderen nach durch seine Träume stolpert? Ist er eine in ihren Ursprüngen verinnerlichte oder sozusagen aus Büchern gestohlene Persönlichkeit? Oder vegetiert er wirklich vor sich hin?
Die Geschichte nähert sich ihrem Ende. Nachdem sich die Lage und die Menschen im Land veränderten, nachdem eine Geschichte nach der anderen erzählt wurde, war unser Freund mutig genug, sein Leben zu ändern. Er beschloss, sich nicht um die Gefahr zu kümmern, die von seinem großen Bruder ausging, von seinem Bruder, der im Leben nichts anderes kannte, als die Karriereleiter hinaufzusteigen und Ruhm zu ernten, von seinem Bruder, dem berüchtigten Henker, der seine Töchter nach den Hilferufen seiner Folteropfer benannte: Rifqa – Milde, Rahma – Erbarmen, Schafaqa – Gnade, Ra’fa – Mitleid. Sein Bruder, der nicht wollte, dass jemand über seine Vergangenheit Bescheid wusste und die Vergangenheit eines anderen an sich riss. Ja, er beschloss, sich nicht um die Gefährlichkeitseines Bruders und seiner Helfershelfer zu kümmern, die seine Befehle ausführten und jeden ermordeten und vernichteten, der ihm im Weg stand. Sei es, wie es sei: Diesmal würde sein Bruder ihn nicht besiegen!«
Als der Erzähler die Geschichte seines Freundes beendete, wandte er
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