Just Kids
in Gedanken über meine Lage, blind und taub für alles um mich herum.
Es war Freitag, der 21. Juli, und der Schmerz einer ganzen Generation überrollte mich völlig unerwartet. John Coltrane, der uns A Love Supreme geschenkt hatte, war tot. Trauben von Menschen sammelten sich gegenüber der St. Peter’s Church, um Abschied zu nehmen. Stunden vergingen. Die Menschen schluchzten, alsAlbert Aylers Love Cry die Atmosphäre beseelte. Es war, als wäre ein Heiliger gestorben, der den Menschen heilende Musik dargebracht hatte und sich doch nicht selbst heilen durfte. Mit vielen Fremden teilte ich den Schmerz über den Verlust eines Mannes, den ich nur durch seine Musik gekannt hatte.
Später ging ich die Second Avenue entlang, das Hoheitsgebiet von Frank O’Hara. Rosafarbenes Licht überzog eine ganze Reihe von Gebäuden, die mit Brettern vernagelt waren. New Yorker Licht, das Licht der abstrakten Expressionisten. Ich dachte: Frank hätte die Farbe des schwindenden Tages geliebt. Hätte er noch gelebt, hätte er vielleicht eine Elegie für John Coltrane geschrieben, wie die für Billie Holiday.
Den ganzen Abend lang beobachtete ich das Treiben am St. Mark’s Place. Langhaarige, herumgammelnde Jungen in gestreiften Schlaghosen, darüber Uniformjacken, flankiert von Mädchen in Batikkleidern. Die Straßen waren tapeziert mit Flyern, die Paul Butterfield und Country Joe and the Fish ankündigten. White Rabbit schallte aus den geöffneten Türen des Electric Circus. Die Luft war schwer von flüchtigen Chemikalien, Moder und erdig stinkendem Haschisch. Kerzentalg brannte, tropfte in großen Wachstränen auf den Gehweg.
Ich gehörte zwar nicht unbedingt dazu, aber ich fühlte mich sicher. Niemand beachtete mich. Ich konnte mich frei bewegen. Hier gab es eine vagabundierende Gemeinschaft junger Leute, sie schliefen in Parks, in behelfsmäßigen Zelten, die neuen Immigranten strömten ins East Village. Ich war nicht ihresgleichen, aber da alles so schön im Fluss war, konnte ich mich in ihrer Mitte treiben lassen. Ich hatte Vertrauen. Ich hatte in der Stadt nie das Gefühl gehabt, in Gefahr zu sein, und mir ist nie eine Gefahr begegnet. Ich hatte einem Dieb nichts zu bieten, und ich fürchtete keine Männer auf Frauenfang. Ich war für niemanden von Interesse, und das kam mir in den ersten Wochen des Juli zugute, in denen ich mich durchschnorrte, am Tag auf Erkundung ging und des Nachts meinen Schlafplatz aufschlug, wo immer ich konnte. Ichschlief in Hauseingängen, U-Bahn-Wagen, einmal sogar auf dem Friedhof. Aus dem Schlaf geschreckt fand ich mich unter dem Stadthimmel wieder, manchmal gerüttelt von einer unbekannten Hand. Zeit zum Weiterziehen. Zeit zum Weiterziehen.
Wenn es richtig hart wurde, zog es mich zurück zum Pratt Institute, wo ich gelegentlich auf irgendwen traf, der mich bei sich duschen und eine Nacht ausschlafen ließ. Oder ich schlief im Flur neben einer vertrauten Tür. Das war kein Vergnügen, aber ich hatte mein Mantra: »Ich bin frei, ich bin frei.« Obwohl sich nach einigen Tagen mein anderes Mantra, »Ich bin hungrig, ich bin hungrig« in den Vordergrund zu drängen schien. Trotzdem war ich unbesorgt. Ich musste nur kurz verschnaufen, ich würde mich nicht geschlagen geben. Ich schleppte mein kariertes Köfferchen von einer Schwelle zur anderen, ich wollte die Gastfreundschaft der Bewohner nicht überstrapazieren.
Es war der Sommer, in dem Coltrane starb. Der Sommer von Crystal Ship. Blumenkinder erhoben ihre leeren Arme, und China zündete die H-Bombe. Jimi Hendrix setzte in Monterey seine Gitarre in Brand. Ode to Billie Joe lief im Mainstream-Radio. Es gab Unruhen in Newark, Milwaukee und Detroit. Es war der Sommer von Elvira Madigan, der Sommer der Liebe. Und in dieser wechselhaften, unwirtlichen Atmosphäre änderte eine Zufallsbegegnung den Lauf meines Lebens.
In diesem Sommer traf ich Robert Mapplethorpe.
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ES WAR HEIß IN DER STADT, ABER ICH TRUG IMMER NOCH meinen Regenmantel. Er gab mir Selbstvertrauen, während ich mir auf der Suche nach Arbeit die Füße wundlief und nichts vorzuweisen hatte als einen befristeten Fabrikjob, Rudimente eines nicht abgeschlossenen Studiums und eine tipptopp gestärkte Kellnerinnenuniform. Schließlich fand ich einen Job in einem kleinen italienischen Restaurant, Joe’s am Times Square. Als ich gerade mal drei Stunden nach Beginn meiner Schicht einem Gast ein ganzes Tablett Vitello Parmigiano auf den Tweedanzug kippte, wurde ich von meinen
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