Just Kids
Pflichten entbunden. Weil mir klar war, dass ich als Kellnerin keine Zukunft hatte, ließ ich die nur leicht bekleckerte Arbeitskleidung mitsamt dem dazugehörigen Schuhwerk in einer öffentlichen Toilette liegen. Meine Mutter hatte sie mir geschenkt, eine weiße Uniform mit weißen Schuhen, und mir auf diese Weise ihre Hoffnung für mein Wohlergehen mitgegeben. Nun endeten sie als welke Lilien in einem weißen Waschbecken.
Als ich in die psychedelische Atmosphäre des St. Mark’s Place im East Village eintauchte, rechnete ich nicht damit, in eineRevolution zu geraten. Es herrschte eine diffuse, alarmierende Paranoia, ein Strom von Gerüchten, aufgeschnappten Gesprächsfetzen, Namen wie The Weathermen, White Panters, Black Power und The Electric Circus kündigten die bevorstehende Revolution an. Ich hockte einfach da und versuchte, aus allem schlau zu werden, in dichte Pot-Schleier gehüllt, was erklären könnte, warum meine Erinnerungen träumerisch-verschwommen sind. Ich kämpfte mich durch ein dichtes kulturelles Bewusstseinsnetz, von dessen Existenz ich nichts geahnt hatte.
Ich hatte in der Welt meiner Bücher gelebt, von denen die meisten im neunzehnten Jahrhundert geschrieben worden waren. Ich war darauf eingestellt, auf Parkbänken, in U-Bahn-Stationen und Friedhöfen zu schlafen, bis ich Arbeit gefunden hatte, aber mit dem ständigen nagenden Hunger hatte ich nicht gerechnet. Ich war ein dünnes Ding mit rasantem Stoffwechsel und gesundem Appetit. Romantizismus konnte meinen Nahrungsbedarf nicht stillen. Sogar Baudelaire musste essen. In seinen Briefen flehte er oft verzweifelt um Fleisch und Porter.
Ich brauchte einen Job. Ich war heilfroh, als ich in einer Filiale der Buchhandelskette Brentano im nördlichen Manhattan als Kassiererin eingestellt wurde. Ich hätte zwar lieber in der Lyrikabteilung gearbeitet, anstatt an der Kasse für Folkloreschmuck und Kunstgewerbe zu stehen, aber es machte mir Spaß, den Schmuck aus weit entfernten Ländern anzusehen: Berber-Armbänder, Muschelketten aus Afghanistan und ein juwelenbesetzter Buddha. Mein Lieblingsstück war eine schlichte Halskette aus Persien. Sie bestand aus zwei emaillierten Metallplättchen an dicken schwarz-silbernen Kordeln, wie ein sehr altes, exotisches Skapulier. Sie kostete achtzehn Dollar, was mir damals wie ein Vermögen erschien. Wenn nicht viel los war, nahm ich sie manchmal aus der Vitrine, fuhr mit dem Finger über die eingeritzten Schriftzeichen in der violetten Oberfläche und fantasierte mir Legenden über ihre Herkunft zusammen.
Kurz nachdem ich bei Brentano angefangen hatte, kam derJunge in die Buchhandlung, den ich in Brooklyn flüchtig kennengelernt hatte. In seinem weißen Hemd mit Krawatte sah er ganz verändert aus, wie ein katholischer Schuljunge. Er erklärte mir, dass er in der anderen Brentano-Filiale in Downtown arbeite und einen Mitarbeitergutschein einlösen wolle. Er brauchte sehr lange, um sich alles anzusehen, die Perlen, die Figürchen, die Türkisringe.
Schließlich sagte er: »Ich nehme das da.« Es war die persische Halskette.
»Oh, die habe ich auch am liebsten«, sagte ich. »Sie erinnert mich an ein Skapulier.«
»Bist du katholisch?«, fragte er mich.
»Nein, ich mag bloß katholische Sachen.«
»Ich war Messdiener«, sagte er und grinste mich an. »Am liebsten hab ich immer das Weihrauchfass geschwenkt.«
Ich war froh, dass er sich das Schmuckstück aussuchte, das ich auch genommen hätte, aber traurig, dass ich mich davon trennen musste. Als ich es eingepackt hatte und ihm gab, sagte ich impulsiv: »Schenk das keinem Mädchen außer mir.«
Es war mir sofort peinlich, aber er lächelte nur und sagte: »Mach ich nicht.«
Als er gegangen war, schaute ich auf die leere Stelle auf dem schwarzen Samt, wo es gelegen hatte. Am nächsten Morgen lag ein viel aufwendiger gestaltetes neues Stück an seinem Platz, aber ihm fehlte das schlichte Mysterium des persischen Kettchens.
Am Ende meiner ersten Arbeitswoche war ich ausgehungert und wusste immer noch nicht, wohin. Ich schlief jetzt im Laden. Ich versteckte mich in der Toilette, wenn die anderen gingen, und nachdem der Wachmann alles abgeschlossen hatte, legte ich mich auf meinen Mantel. Am Morgen sah es so aus, als sei ich sehr früh zur Arbeit gekommen. Ich hatte keinen Cent und durchwühlte die Taschen der Angestellten nach Kleingeld, um mir Erdnussbuttercracker am Automaten zu ziehen. Vom Hunger zermürbt, war ich geschockt, als am Zahltag kein
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