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Just Kids

Titel: Just Kids Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patti Smith
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nie Fehler, denn er schien von allem etwas zu verstehen, er war der unbestrittene Meister der Manipulation von Fakten.
    Harry war außerdem Experte für Fadenspiele. Wenn er guter Laune war, zog er eine meterlange Schlinge aus der Hosentasche und wob einen Stern, einen weiblichen Naturgeist oder ein Ein-Mann-Abnehmespiel. Wir anderen saßen ihm dann wie gebannte Kinder in der Lobby zu Füßen und sahen zu, wie seine flinken Finger durch Drehen und Verknoten der Schlinge sinnträchtige Muster hervorzauberten. Er dokumentierte diese Muster und ihre symbolische Bedeutung auf Hunderten von Notizzetteln. Mit solchen unschätzbar wertvollen Informationen fütterte er uns, aber bedauerlicherweise passte niemand richtig auf, so fasziniert waren wir von seiner Fingerfertigkeit.
    Irgendwann saß ich mal in der Lobby und las in Der goldene Zweig, und Harry fiel auf, dass es die zerlesene zweibändige Erstausgabe war. Er bestand darauf, dass wir uns auf der Stelle zu Samuel Weisers Buchladen begaben, um uns im Abglanz der stark erweiterten Prachtausgabe der dritten Auflage zu sonnen. Weiser hatte die umfangreichste Auswahl an esoterischen Büchern in der ganzen Stadt. Ich war bereit mitzugehen, solange er und Robert sich nicht zukiffen würden. Wir drei gemeinsam in der Außenwelt, noch dazu in einem Laden für okkulte Bücher, war an sich schon eine tödliche Dosis.
    Harry war ein guter Bekannter der Weiser-Brüder, darum bekam ich den Schlüssel zu der Vitrine, in der sich die legendäre Prachtausgabe von Der Goldene Zweig von 1955 befand, dreizehnschwere grüne Bände, die klangvolle Titel wie Der Korngeist in Tiergestalt und Öffentliche Sündenböcke trugen. Harry verschwand mit Mr Weiser in einem Hinterzimmer, höchstwahrscheinlich, um irgendwelche mystischen Manuskripte zu entziffern. Robert las in Tagebuch eines Drogenabhängigen, und ich sah mich in der Gurdjieff-Abteilung um.
    Es erschien mir, als seien wir Stunden in der Buchhandlung herumgelaufen. Harry war relativ lange verschwunden, bis wir ihn dann stockstarr mitten im Hauptraum stehend wiederfanden. Wir beobachteten ihn eine ganze Weile, aber er machte nicht die kleinste Bewegung. Schließlich ging Robert zu ihm hin und fragte verwirrt: »Was machst du da?«
    Harry starrte ihn mit den Augen eines verhexten Ziegenbocks an. »Ich lese«, erklärte er.
    Wir sind im Chelsea vielen faszinierenden Leuten begegnet, aber wenn ich die Augen schließe, um an sie zurückzudenken, taucht Harry irgendwie immer zuerst auf. Es mag daran liegen, dass er der Erste war, den wir dort kennenlernten. Aber ich glaube, der Grund ist eher, dass es eine magische Zeit war und Harry an die Magie glaubte.

    Roberts großer Wunsch war, in den Kreis um Andy Warhol vorzustoßen, auch wenn er kein Verlangen hatte, sich Warhols Entourage anzuschließen oder in seinen Filmen mitzuspielen. Robert sagte oft, er wüsste, wie Andy tickte, und wenn er einmal mit ihm sprechen könnte, würde Andy ihn als ebenbürtig anerkennen. Ich fand zwar, Robert hätte sich längst diese Audienz bei Andy verdient, aber ich glaubte nicht, dass irgendein interessantes Gespräch zustande kommen würde, weil Andy sich winden konnte wie ein Aal und es meisterlich verstand, jeder ernsthaften Diskussion auszuweichen.
    Diese Mission war es jedenfalls, die uns in das Bermudadreieck der Stadt führte, zwischen den Eckpunkten Brownie’s, Max’s Kansas City und der Factory, die alle fußläufig voneinander entfernt lagen. Die Factory war von ihrer ursprünglichen Adresse auf der Forty-seventh Street zum Union Square 33 umgezogen. Brownie’s war ein Naturkost-Restaurant gleich um die Ecke, in das die Warhol-Leute zum Essen gingen, und Max’s war der Laden, in dem sie nachts zu finden waren.
    Das erste Mal gingen wir mit Sandy Daley ins Max’s; um allein hinzugehen, waren wir zu schüchtern. Wir kannten die ungeschriebenen Regeln nicht, und Sandy war eine gewandte, unvoreingenommene Fremdenführerin. Die Seilschaften im Max’s funktionierten nicht viel anders als an jeder x-beliebigen Highschool, nur dass sich im Max’s nicht alles um Cheerleader und Football-Helden drehte. Es war sehr wahrscheinlich, dass die Prom-Queen ein Er war, verkleidet als Sie, und mehr über das Sie-Sein wusste als die meisten Frauen.
    Max’s Kansas City lag zwischen der Seventeenth und Eighteenth Street an der Park Avenue South. Es war eigentlich ein Restaurant, auch wenn kaum einer von uns das Geld hatte, tatsächlich dort zu essen. Mickey

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