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Just Kids

Titel: Just Kids Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patti Smith
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nachgingen. Peggy war eine freundliche, lebenslustige Frau mit Pferdeschwanz, dunklen Augen und sonnengegerbter Haut, die Gott und die Welt zu kennen schien. Sie hatte zwischen ihren Augenbrauen ein Muttermal, das Allen Ginsberg ihr drittes Auge getauft hatte, und wäre jederzeit als Nebendarstellerin in einem Beatnik-Film durchgegangen. Wir waren ein komischer Verein, alle redeten durcheinander, widersprachen einander und stritten sich, eine Kakophonie liebevoller Kabbeleien.
    Robert und ich hatten selten richtigen Streit. Er wurde so gut wie nie laut, doch wenn er wütend war, konnte man das in seinen Augen, an den Brauen oder seinem angespannten Kiefer sehen. Wenn wir ein Problem hatten, das ausdiskutiert werden musste, gingen wir zum »miesen Donutladen« an der EckeEighth Avenue und Twenty-third. Es war eine Edward-Hopper-Version von Dunkin’ Donuts. Der Kaffee schmeckte angebrannt, die Donuts muffig, aber man konnte sich darauf verlassen, dass er die ganze Nacht geöffnet hatte. Wir fühlten uns dort weniger beengt als in unserem Zimmer, und niemand behelligte uns. Man traf dort egal zu welcher Stunde ein Sammelsurium aller möglichen Gestalten an, Typen auf H, Nutten auf Nachtschicht, Durchreisende und Transvestiten. In diese Atmosphäre konnte man unbemerkt eintauchen, ohne ihnen mehr als einen flüchtigen Blick wert zu sein.
    Robert nahm immer einen mit Puderzucker bestreuten Marmeladen-Donut und ich einen French Cruller. Aus irgendeinem Grund kosteten die fünf Cents mehr als ein normaler Donut. Jedes Mal, wenn ich mir einen davon bestellte, sagte Robert: »Patti! Du magst die doch gar nicht; du isst sie doch nur, weil sich das so französisch anhört.« Robert nannte sie darum auch »Poeten-Cruller«.
    Es war Harry, der die Herkunft des Wortes cruller klärte. Es war überhaupt kein französisches Wort, sondern kam aus dem Holländischen und bezeichnete ein geriffeltes, ringförmiges Schmalzgebäck aus Brandteig mit leichter und luftiger Konsistenz, das man am Karnevalsdienstag aß. Es wurde aus Eiern, Butter und Zucker hergestellt, die allesamt während der Fastenzeit verboten waren. »Dann wissen wir ja jetzt, warum der Donut ein Loch hat«, sagte ich. »Weil es ein Holy Donut ist.« Harry überlegte einen Moment und wies meine Behauptung dann empört zurück. »Nein, nein, das heißt doch auf Holländisch vollkommen anders«, sagte er. »Das geht so nicht.« Ob mit heiligem Loch oder nicht, auf jeden Fall hatte er nichts mit Frankreich zu tun.
    Eines Abends luden uns Harry und Peggy ein, sie zu dem Komponisten George Kleinsinger zu begleiten, der eine ganze Suite im Chelsea bewohnte. Ich war immer etwas schüchtern, wenn es darum ging, Leute zu besuchen, vor allem bei Erwachsenen. Aber Harry köderte mich mit der Information, dass George die Musikzu Archy and Mechitabel geschrieben hatte, einem Zeichentrickfilm über die Liebe zwischen einer Küchenschabe und einer streunenden Katze. Kleinsingers Räume sahen mehr nach Regenwald als nach einer Hotelunterkunft aus, eine echte Anna-Kavan-Szenerie. Das Highlight war seine Sammlung exotischer Schlangen, darunter eine über drei Meter lange Python. Robert konnte den Blick gar nicht von ihnen abwenden, ich war eher entsetzt.
    Während die anderen abwechselnd die Python tätschelten, hatte ich Gelegenheit, in den Kompositionen von George herumzukramen, die sich unordentlich zwischen den Farnen, Palmen und Volieren mit Nachtigallen stapelten. In einem Stoß auf einem Aktenschrank entdeckte ich zu meiner Begeisterung die Original-Notenblätter von Shinbone Alley. Noch begeisterter war ich allerdings, als ich Indizien dafür fand, dass dieser kultivierte und freundliche, schlangenzüchtende Gentleman niemand Geringerer als der Komponist von Tubby the Tuba war. Er bekannte sich dazu, und ich weinte fast, als er mir die Originalpartituren der Musik zeigte, die ich als Kind so geliebt hatte.
    Das Chelsea war wie ein Puppenhaus in der Twilight Zone, mit Hunderten von Zimmern, von denen jedes ein eigenes kleines Universum barg. Ich durchwanderte seine Flure auf der Suche nach seinen Geistern, ob tot oder lebendig. Meine Expeditionen gerieten etwas vorwitziger, wenn ich vorsichtig eine nicht ganz verschlossene Tür aufstieß, um einen schnellen Blick auf Virgil Thomsons Flügel werfen zu können, oder vor dem Namensschild von Arthur C. Clarke herumlungerte und hoffte, er würde plötzlich herauskommen. Gelegentlich stieß ich auf Gert Schiff, den deutschen

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