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Just Kids

Titel: Just Kids Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patti Smith
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Fotosammlung des Museums untergebracht war; vieles davon war noch nie öffentlich gezeigt worden. Johns Spezialgebiet war viktorianischeFotografie, und er wusste, dass ich ebenfalls eine Schwäche dafür hatte. Er lud Robert und mich ein, uns diese Stücke im Original anzusehen. Es gab dort schmale Karteikästen vom Fußboden bis zur Decke, Metallregale und Schubladen voller Originalabzüge der frühen Meister der Fotografie: Fox Talbot, Alfred Stieglitz, Paul Strand oder Thomas Eakins.
    Dass er das Seidenpapier von diesen Fotografien vorsichtig abheben, sie tatsächlich berühren und sich einen Begriff von dem Papier und der künstlerischen Handschrift machen durfte, beeindruckte Robert sehr. Er studierte alles eingehend – das Papier, das Entwicklungsverfahren, die Komposition, die Intensität der Kontraste. »Es geht wirklich immer nur ums Licht«, sagte er.
    John hatte die atemberaubendsten Bilder für zuletzt aufbewahrt. Er zeigte uns ein Foto nach dem anderen, das den Augen der Öffentlichkeit vorenthalten wurde, darunter Stieglitz’ erlesene Aktaufnahmen von Georgia O’Keeffe. Auf dem Höhepunkt ihrer Beziehung entstanden, offenbarten sie in ihrer Intimität ihr tiefes Verständnis füreinander und O’Keeffes maskuline Schönheit. Während Robert sich auf technische Aspekte konzentrierte, war es für mich am interessantesten, wie O’Keeffe sich Stieglitz präsentierte, ungekünstelt, arglos. Robert war daran interessiert, wie man die Fotografie machte, ich wollte lernen, wie man Motiv war.
    Diese heimliche Besichtigungstour war einer der ersten Schritte in Johns förderlicher, wenn auch nicht ganz einfacher Beziehung zu Robert. John bewunderte Roberts Arbeiten, kaufte ihm seine erste eigene Polaroidkamera und verschaffte ihm außerdem eine Beihilfe der Firma Polaroid, die ihm so viele Filme zur Verfügung stellte, wie er brauchte. Diese Geste fiel zusammen mit Roberts ohnehin gesteigertem Interesse am Fotografieren. Was ihn bisher zurückgehalten hatte, waren die horrenden Preise für Filmmaterial.
    John eröffnete Robert nicht nur in den USA neue gesellschaftliche Kreise, sondern auch international, denn kurze Zeit später nahm er ihn mit, als er in Museumsangelegenheiten nach Parisreisen musste. Es war Roberts erste Auslandsreise. Er bekam ein höchst opulentes Paris zu sehen. Roberts Freundin Loulou war Johns Stieftochter, und sie tranken zusammen mit Yves Saint Laurent und dessen Partner Pierre Bergé Champagner, wie Robert mir aus dem Café de Flore schrieb. Auf seiner Postkarte schrieb er mir auch, dass er Statuen fotografiere; so verband er zum ersten Mal seine Liebe zur Skulptur mit der Fotografie.
    Johns Hingabe für Roberts Arbeit weitete sich irgendwann auf Robert selbst aus. Robert akzeptierte zwar die Geschenke, die John ihm machte, und nutzte die Chancen, die John ihm bot, aber er hatte nie Interesse an einer Liebesbeziehung zu John. John war sensibel, impulsiv und körperlich eher zart, Eigenschaften, die Robert nicht anziehend fand. Robert bewunderte Maxime, die stark und ambitioniert war und aus bester Familie stammte. Vielleicht sprang er etwas unbekümmert mit Johns Gefühlen um, denn nach einer Weile fand dieser sich in eine sehr ungesunde romantische Obsession verstrickt.
    Wenn Robert fort war, besuchte John eben mich. Manchmal brachte er mir ein Geschenk mit, etwa einen kleinen Ring aus geflochtenem Gold aus Paris oder eine besondere Übersetzung von Verlaine oder Mallarmé. Wir unterhielten uns über die fotografischen Arbeiten von Lewis Carroll oder Julia Margaret Cameron, aber eigentlich wollte er nur über Robert reden. Auf den ersten Blick konnte man Johns Kummer der unerwiderten Liebe zuschreiben, doch je näher ich ihn kennenlernte, umso deutlicher wurde mir, dass es mehr an Johns unerklärlicher Selbstverachtung lag. John hätte kaum überschwänglicher, liebevoller und wissbegieriger sein können, daher verstand ich nicht, warum er so eine geringe Meinung von sich selbst hatte. Ich tat mein Bestes, aber konnte ihm keinen echten Trost bieten: Robert würde in ihm nie mehr als einen Freund und Mentor sehen.
    Einer der verlorenen Jungen in Peter Pan heißt John. Manchmal kam er mir genauso vor: ein blasser und schmächtiger viktorianischer Junge, der immer nur Pans Schatten nachjagte.
    Trotzdem hätte John McKendry Robert kein besseres Geschenk machen können, als ihm die Mittel und Möglichkeiten zu verschaffen, die er brauchte, um sich ganz der Fotografie zu verschreiben.

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