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Just Listen - Roman

Just Listen - Roman

Titel: Just Listen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Dessen
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ziemlich müde. Ich denke, ich gehe besser ins Bett.«
    »In Ordnung.« Er wandte sich wieder zum Fernseher um. »Gute Nacht, Annabel.«
    »Gute Nacht.«
    Mein Vater nahm die Fernbedienung zur Hand. Ich ging in den Flur zurück. Mondlicht fiel in schräg geneigten Strahlen durch das Fenster über der Tür, beleuchtete das große, gerahmte Foto von meiner Mutter, meinen Schwestern und mir an der gegenüberliegenden Wand. In dem silbernen Licht konnte man jede Einzelheit erkennen: die Wellenkämme im Hintergrund, den leichten Graustich des Himmels. Ich stand eine Weile da und betrachtete uns, dort alle miteinander. Sog Kirstens Lachen, Whitneys gequälten Blick, die Art, wie meine Mutter ihren Kopf leicht zur Seite geneigt hielt, in mich auf. Als ich bei meinem eigenen Gesicht   – in sich selbst strahlend, aber von unendlich viel Dunkelheit umrahmt   – angelangt war, kam es mir für einen Moment so vor, als würde ich eine Person anstarren, die ich gar nicht kannte. Wie ein Wort, das man millionenfach geschrieben oder gelesen hat und das dennoch auf einmal ganz seltsam oder falsch aussieht. Fremd. Und man erschrickt kurz, als würde einem in dem Moment auffallen, dass man etwas verloren hat, obwohl man gar nicht sicher ist, was eigentlich.
    Am nächsten Tag rief ich mehrmals bei Sophie an, aber sie ging nicht ans Telefon. Ich wusste, ich hätte zu ihr gehen und ihr das persönlich erklären sollen. Aber jedes Mal, wenn ich kurz davor war, schossen mir blitzartig Erinnerungen an das dunkle Zimmer durch den Kopf: wie dieser Arm meinen Mund zupresste, wie meine Füße krachend gegen die Tür schlugen. Und ich schaffte es einfach nicht, loszugehen. Im Gegenteil, immer wenn ich daran dachte, was passiert war, drehte sich mir der Magen um, stieg mir Galle in die Kehle. Als ob ein Teil von mir das Geschehene hochtreiben, ausstoßen, meinen Körper davon reinigen wollte, weil ich selbst das anscheinend nicht fertigbrachte.
    Die Alternative war natürlich auch nicht prickelnd. Sophie hatte mich schon jetzt als Schlampe gebranntmarkt. Und wer weiß, wie die Geschichte im Laufe der letzten Stunden noch aufgebläht und übertrieben worden war. Und dennoch: Was sich tatsächlich ereignet hatte, war noch viel, viel schlimmer als alles, was Sophie in ihrem Wahn daraus machen und überall rumerzählen konnte.
    Wenigstens wusste ich, tief in mir drinnen, dass ich nichts falsch gemacht hatte. Es war nicht mein Fehler gewesen. In einer besseren Welt hätte ich es allen erzählen können, ohne mich dafür schämen zu müssen. Aber im realen Leben war das nicht so simpel. Ich war es gewohnt, im Rampenlicht zu stehen, angeschaut zu werden   – es war Teil meines Lebens, schon immer gewesen, solange ich mich zurückerinnern konnte. Aber wenn die Leute erst einmal von der Sache erfuhren, würden sie mich garantiert auf eine andere Art wahrnehmen. Nicht länger mich sehen, sondern nur noch das, was mir zugestoßen war. Alles Verletzliche und Verletzte, Beschämende, Intime würde nach außen gekehrt, ihren scharfen, forschenden Blicken ausgesetztsein. Ich wäre nicht länger das Mädchen, das alles hat, sondern die, die überfallen und halb vergewaltigt worden war. Hilflos, ohnmächtig gewesen war. Deshalb erschien es mir sicherer, das Geschehene für mich zu behalten. Dann gab es wenigstens nur einen Menschen, der ein Urteil darüber fällen konnte: mich selbst.
    Natürlich kamen auch Zeiten, in denen ich mich fragte, ob diese Entscheidung wirklich richtig war. Aber während die Tage und Wochen vergingen, hatte ich zunehmend das Gefühl, jetzt wäre es ohnehin zu spät. Sogar, wenn ich es überhaupt fertiggebracht hätte, darüber zu reden. Je länger es her war, umso weniger Leute würden mir glauben. Dachte ich jedenfalls.
    Deshalb unternahm ich gar nichts.
    Ein paar Wochen später war ich mit meiner Mutter im Drogeriemarkt, um ein paar Sachen zu besorgen, als sie plötzlich fragte: »Ist das nicht Sophie?«
    Ja, es war Sophie. Sie stand am anderen Ende des Ganges, eine Zeitschrift in der Hand. Ich beobachtete, wie sie eine Seite umblätterte und wegen etwas, das sie dort entdeckte, kritisch das Gesicht verzog. »Stimmt, das ist sie.«
    »Geh ruhig hin und sag Hallo. Ich suche zusammen, was wir brauchen.« Meine Mutter nahm mir die Einkaufsliste aus der Hand. »Wir treffen uns vorn bei den Kassen, einverstanden?« Sie schob den Einkaufskorb auf ihrem Arm etwas höher und ging. Ließ uns allein.
    Ich hätte ihr einfach folgen sollen.

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