Just Listen - Roman
jener Nacht empfand – die Scham, die Angst –, würde mit der Zeit verblassen. Würde heilen. So wie sich selbst eine klaffende Wunde in eine kaum sichtbare Narbe verwandeln kann. Aber nichts da. Stattdessen schienen die Dinge, die mir in Erinnerung geblieben waren, vor allem die kleinsten Details, im Laufe der Zeit erst recht intensiver zu werden, bis ich sie wie ein Gewicht auf meiner Brust spürte. Doch nichts hing mir so nach wie der Moment, als ich den stockdunklen Raum betrat, wo das Grauen auf mich wartete. Und wie das Licht anschließend aus dem Albtraum Realität gemacht hatte. Diese eine Erinnerung konnte ich einfach nicht verdrängen. Jedes Mal, wenn ich hinausging, ins helle Sonnenlicht, oder in ein dunkles Zimmer, wo icherst einmal den Lichtschalter ertasten musste, stürzte alles, was geschehen war, wieder auf mich ein.
Denn im Grunde ging es genau darum: Früher einmal war der Unterschied zwischen hell und dunkel vollkommen klar gewesen. Das eine war eben gut, das andere schlecht. Doch nun lagen die Dinge nicht mehr so eindeutig. Zwar blieb das Dunkle geheimnisvoll, etwas, vor dem man Angst hatte, weil es Unbekanntes in sich verbergen mochte. Aber mittlerweile hatte ich gelernt, auch das Licht zu fürchten. Es legte alles offen oder erweckte zumindest diesen Anschein. Wenn ich die Augen schloss, sah ich die Schwärze, die mich permanent an diese
eine
Erfahrung, an mein tiefstes Geheimnis, erinnerte. Hatte ich die Augen jedoch geöffnet, erstreckte sich vor mir nichts als die Welt, die nach wie vor nichts davon ahnte. Sie war hell erleuchtet, man konnte ihr nicht entrinnen und aus irgendeinem Grund existierte sie einfach weiter.
Kapitel 14
»Hallo!« Owen lächelte schon, während er noch den Kopf drehte, um mich anzusehen. »Du hast es geschafft.«
Allerdings. Ich stand im
Bendo
vor der Bühne, auch wenn ich selbst nicht genau wusste, wie ich das hingekriegt hatte. Denn von dem Moment an, da Emily und ich einander direkt gegenüberstanden, erschien mir alles, was seitdem geschehen war, wie in einem Nebel.
Zumindest hatte ich den Rest der Modenschau überlebt, noch drei weitere Outfits präsentiert und mit den anderen Models applaudiert, als Mrs McMurty – wie jedes Jahr – vor dem begeisterten Publikum gerührt versicherte, sie sei erstens sehr verlegen und zweitens sehr überrascht gewesen, als man sie nach dem Ende der Show bedrängt habe, zu uns auf den Laufsteg zu kommen, um ihr Blumen zu überreichen. Als es endlich vorbei war, ging ich hinter die Bühne, wo meine Eltern bereits auf mich warteten.
Sobald meine Mutter mich entdeckte, zog sie mich an sich und umarmte mich ausgiebig. Ihre Hände strichen sanft über meinen Rücken. »Du warst fantastisch. Absolut großartig.«
»Ja. Obwohl dieses Kleid ein bisschen tief ausgeschnitten ist«, fügte mein Vater hinzu und musterte kritisch dasweiße Etuikleid, das ich für das große Finale mit der noch größeren Abendgarderobe getragen hatte. »Findet ihr nicht?«
»Nein.« Meine Mutter kniff ihn spielerisch. Ließ mich los, blickte mich an: »Es ist perfekt. Du warst perfekt.«
Ich zwang mich zu lächeln, aber in meinem Kopf drehte sich immer noch alles. Da, wo wir standen, hinter der Bühne, herrschte zwar ein unglaubliches Gewimmel, Gewühle, Getöse. Dennoch konnte ich nur an eins denken, vielmehr eine: Emily.
Sie weiß es
, dachte ich und hörte bloß mit halbem Ohr hin, als meine Mutter meinte, man müsse unbedingt noch eben Mrs McMurty begrüßen.
Sie weiß es.
Ich strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. War nervös, durcheinander, aufgewühlt. Dass es so laut war und so heiß, dass Unmengen Leute sich um uns herumdrängten, half nicht gerade weiter. Und meine Mutter plauderte ohne Unterlass.
»... war wirklich ganz zauberhaft. Aber wir sollten demnächst nach Hause fahren. Whitney macht Abendessen, sie rechnet eigentlich bereits seit zehn Minuten mit uns, zumindest uns beiden.«
»Whitney?«, fragte ich. Mein Vater nickte einem Mann im Anzug zu, rief grüßend seinen Namen. »Ist sie denn nicht hier?«
Meine Mutter drückte liebevoll meine Schulter. »Ich bin mir sicher, sie wäre gern gekommen, aber vermutlich ist das alles immer noch recht schwer für sie … Jedenfalls wollte sie lieber zu Hause bleiben. Aber deinem Vater und mir hat es wunderbar gefallen. Ganz wunderbar.«
Kann ja sein, dass ich nach meinem Erlebnis mit Emily neben der Spur war, aber eins wusste ich, und zwar ganz genau: Es war meine
Weitere Kostenlose Bücher