Just Listen - Roman
Ich
konnte
nicht. Konnte mich keinesfalls bis an den Punkt vorwagen, wo ich mit dem Rücken zur Wand stehen und gar keine andere Wahl mehr haben würde, als die Wahrheit zu sagen. »’ne ganze Menge Sachen eben.«
»Sachen«, wiederholte er.
Platzhalter!
, dachte ich. Aber er sprach es nicht aus.
Stattdessen atmete er resigniert aus, wandte den Kopf zum Fenster. Worauf ich den ersten echten Blick in seine Richtung riskierte. Ihn tatsächlich einmal richtig ansah: das energische Kinn, die Ringe an seinen Fingern, die Kopfhörer, lose um seinen Nacken geschlungen. Durch einen davon vernahm ich leise Musik und fragte mich aus alter Gewohnheit reflexartig, was er wohl hörte.
»Ich kapiere das nicht«, sagte er. »Es muss ja einen Grund geben, aber du willst ihn mir einfach nicht sagen. Und das ist …« Er unterbrach sich kopfschüttelnd. »So bist du nicht.«
Einen Moment lang war es ganz ruhig. Niemand ging vorbei, kein Auto fuhr auf der Straße hinter uns her. Sehr still war es, als ich antwortete: »Doch, so bin ich.«
Owen sah mich an, schob seinen Rucksack auf sein anderes Bein. »Was?«
»So bin ich.« Selbst in meinen eigenen Ohren klang meine Stimme zu leise. »Genau so bin ich.«
»Annabel.« Er wirkte immer noch sauer. Als ob das einfach nicht wahr sein
durfte
. Er lag falsch. Und wie falsch er lag. »Komm schon, was ist los?«
Ich blickte wieder auf meine Hände. »Ich wollte ja anders sein. Bin aber eben
so
.«
Immerhin hatte ich von Anfang an versucht, ihm das klarzumachen. Hatte ihm erzählt, dass ich manchmal nicht die Wahrheit sagte, nicht gut mit Konflikten umgehen konnte, Angst bekam, wenn jemand wütend wurde, gewohnt war, dass Menschen, die aus irgendeinem Grund ausrasteten, einfach von der Bildfläche verschwanden. Unser gemeinsamer Irrtum bestand darin, dass wir geglaubt hatten, ich könnte mich ändern.
Hätte
mich geändert. Doch das war am Ende vielleicht die größte Lüge von allen.
Es klingelte zum ersten Mal zur ersten Stunde, lang und schrill. Owen rutschte unruhig auf seinem Sitz herum, legte seine Hand auf den Türgriff.
»Was auch immer es war, du hättest es mir erzählen können. Das weißt du, oder?«
Er blieb einfach nur so da sitzen, eine Hand am Türgriff. Mir war klar, er wartete darauf, dass ich das mutige Mädchen wäre, welches er in mir sehen wollte. Dass ich ihm schlicht die Wahrheit sagte. Er wartete. Länger, als ich je vermutet hätte. Doch schließlich stieß er die Tür auf, stieg aus. Und war weg.
Er ging über den Parkplatz davon, Rucksack über die Schulter geworfen, und stülpte sich bereits die Kopfhörerüber die Ohren. Es war fast ein Jahr her, da hatte ich ihm genauso hinterhergeblickt. Nachdem er Ronnie Waterman zu Boden geschlagen hatte. Ich war damals total überwältigt gewesen. Und ziemlich erschrocken. In diesem Augenblick empfand ich ähnlich. Denn ich begriff, was mein Schweigen und meine Angst mich gekostet hatten. Wieder einmal.
Ich wartete bis zum zweiten Klingeln. Bis der Schulhof fast leer war. Erst dann stieg ich aus meinem Auto, ging zum Unterricht. Ich wollte weder Owen noch sonst jemandem begegnen. Den ganzen Morgen über lief ich wie in einem Nebel durch die Flure und Klassenzimmer, blendete die Stimmen um mich herum aus. Mittags flüchtete ich mich in unsere Schulbibliothek, verkroch mich in der Abteilung »Amerikanische Geschichte« an einem der Arbeitsplätze dort. Breitete Bücher um mich herum aus. Las kein einziges Wort.
Als die Pause fast vorbei war, packte ich meine Sachen zusammen und ging zur Toilette. Bis auf zwei Mädchen, die ich nicht kannte, war sie leer. Die beiden standen an den Waschbecken. Als ich eine der Kabinen betrat, setzten sie ihr Gespräch fort.
»Ich will damit bloß sagen …« – ein Hahn wurde aufgedreht, Wasser plätscherte – »... ich kann mir nicht vorstellen, dass sie lügt.«
»Ach, komm schon.« Die Stimme des anderen Mädchens klang höher und quäkiger. »Er hätte mit jeder ausgehen können, die er wollte. Ist ja wirklich nicht so, als ob ausgerechnet er es nötig gehabt hätte. Also, warum sollte er dann so etwas machen?«
»Meinst du wirklich, sie wäre zur Polizei gegangen, wenn er es nicht getan hätte?«
»Vielleicht ist sie nur scharf darauf, im Mittelpunkt zu stehen.«
»Niemals.« Der Wasserhahn wurde zugedreht, Papiertücher wurden raschelnd aus dem Spender genommen. »Sie war Sophies beste Freundin. Und jetzt weiß jeder Bescheid. Ist doch voll der Horror.
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