Just Listen - Roman
Küche, wiederum dahinter den Pool im Garten. Die Treppe ins obere Stockwerksah man ebenfalls, wie auch den Flur, der zu meinem und Whitneys Zimmer führte, dazu den Treppenabsatz zwischen beiden Räumen und in der Mitte den Kamin, dessen Schornstein sich durchs ganze Haus bis zum Dach erstreckte. Der Rest der Räume lag verwinkelt und versteckt außer Sichtweite. Während man also annehmen konnte, alles zu sehen, war es in Wahrheit gar nicht so. Man erkannte nur Einzelteile. Bruchstücke, die allerdings wie ein Ganzes wirkten.
Weil das Esszimmer sich im vorderen Teil des Hauses befand, saßen wir beim Essen wie auf einem Präsentierteller. Von meinem Platz am Tisch aus konnte ich beobachten, wie die Autos auf der Straße im Vorbeifahren manchmal abbremsten und die Fahrer kurz neugierig zu uns hereinblickten. Was sie sahen, war der Schnappschuss einer glücklichen Familie, die gemütlich zu Abend aß. Aber wie jeder weiß: Der Schein trügt. Zumindest kann er das.
An diesem Abend aß Whitney ein wenig. Zum ersten, aber beileibe nicht zum letzten Mal nahm ich es überhaupt wahr: Ob und dass sie aß. Kirsten trank zu viel Wein. Und meine Mutter hörte nicht auf zu schwärmen, wie wundervoll es sei, dass wir – endlich – alle wieder zusammen seien. All das wiederholte sich über die nächsten drei Tage wie in einer Endlosschleife.
An dem Morgen, an dem Whitney und Kirsten wieder abflogen, setzte meine Mutter sich mit den beiden an den Küchentisch und nahm jeder von ihnen ein Versprechen ab: Whitney möge bitte besser auf sich aufpassen, mehr schlafen und sich gesund ernähren. Kirsten bat sie, weiter ein Auge auf Whitney, aber auch Verständnis für den Druck zu haben, unter dem sie stand. In einer neuen Stadt. Mit einem so harten Job. »In Ordnung?«, fragte sie schließlich,während sie von einer zur anderen blickte und wieder zurück.
»In Ordnung«, ertönte es von Whitney. »Versprochen.«
Doch Kirsten schüttelte bloß den Kopf. »Um mich geht es hier nicht«, entgegnete sie, schob abrupt ihren Stuhl zurück und stand auf. »Ich habe euch gewarnt. Mehr sage ich zu dem Thema nicht. Ich habe euch erzählt, was Sache ist, aber ihr
wollt
ja nicht auf mich hören. Ich möchte nur, dass das ganz klar ist.«
»Kirsten!«, setzte meine Mutter an. Doch Kirsten entschwand bereits Richtung Garage, wo mein Vater die Koffer im Wagen verstaute.
»Mach dir keine Sorgen.« Whitney stand auf und gab meiner Mutter einen Kuss auf die Wange. »Es ist alles in Ordnung, ehrlich.«
Und für eine Weile sah es auch wirklich danach aus. Whitney ergatterte weiterhin einen Job nach dem nächsten, unter anderem – bis zu dem Moment ihr größter, wichtigster Auftrag – ein Shooting für das
New York Magazine
. Kirsten wurde Empfangsdame in einem ziemlich berühmten und angesagten Restaurant; außerdem drehte sie einen T V-Werbespot . Vielleicht lagen die beiden miteinander im Dauerclinch, vielleicht auch nicht – wir bekamen jedenfalls nichts mehr davon mit. Statt wie früher einmal pro Woche mit uns zu telefonieren und dabei den Hörer zwischen sich hin- und herzureichen, riefen sie nun getrennt voneinander an. Kirsten normalerweise am späten Vormittag, Whitney gegen Abend. Dann, ungefähr eine Woche bevor sie zu Weihnachten nach Hause kommen sollten, klingelte beim Abendessen das Telefon.
»Wie bitte – was?!«, sagte meine Mutter in den Hörer. Sie stand im Durchgang von der Küche zum Esszimmer. MeinVater warf ihr einen fragenden Blick zu, während sie die andere Hand hob und über ihr freies Ohr legte, um den Anrufer besser verstehen zu können. »Wie war das gerade?«
»Gracie?« Mein Vater schob seinen Stuhl nach hinten, sprang auf. »Was ist los?«
Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht«, sagte sie und reichte ihm den Hörer. »Ich kann leider nicht …«
»Hallo? Wer ist da?« Mein Vater setzte das Telefonat fort. »Ich verstehe. – Natürlich. – Es muss sich um ein Versehen handeln, da bin ich mir sicher. – Bleiben Sie bitte dran, ich suche Ihnen rasch die richtigen Angaben raus.«
Er legte den Hörer ab. Meine Mutter meinte stockend: »Ich konnte nicht alles verstehen … Was möchte die Dame?«
»Offenbar ein Problem mit Whitneys Versicherungskarte. Sie war anscheinend heute im Krankenhaus.«
»Im Krankenhaus?« Die Stimme meiner Mutter kletterte hoch und immer höher, klang beängstigend flattrig – jedes Mal, wenn ich diesen mir vertrauten Tonfall
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