Just Listen - Roman
Musik sei vielleicht deshalb so »verkrüppelt und unterbelichtet« (seine Worte), weil ich bisher anscheinend zu wenig von der guten, wahren, schönen Musik kennengelernt hatte. Diese CDs stellten demnach sein Heilmittel für mich dar: eine persönliche Erstausstattung, in verschiedene Kapitel unterteilt.
»Wenn du auf irgendetwas davon wirklich abfährst«, fuhr er fort, »kriegst du mehr. Ich meine, wenn du bereit bist, wirklich in die Tiefe zu gehen.«
Ich nahm den Stapel in die Hand und blätterte durch die restlichen CDs. Es gab eine mit Countrymusik, eine genannt DIE BRITISCHE INVASION, eine mit Folksongs; auf jeder standen fein säuberlich die einzelnen Titel aufgelistet. Nur das Cover der CD zuunterst im Stapel war fast leer. Da standen bloß zwei Worte: JUST LISTEN.
Ich reagierte mit spontanem Argwohn: »Ist das Techno?«
»
Das
unterstellst du mir, ohne überhaupt drüber nachzudenken? Ich fasse es nicht.« Er klang tatsächlich ansatz- und ausnahmsweise beleidigt. »Meine Güte!«
»Owen, sag einfach.«
»Ist kein Techno.«
Ich sah ihn auffordernd an.
»Der Punkt ist der«, fuhr er fort, während ich, nach wie vor skeptisch, den Kopf schüttelte, »alle anderen CDs haben ein bestimmtes Konzept, einen bestimmten Aufbau. Sind eine Art Einführungskurs, wenn du so willst. Deshalb solltest du dir die zuerst anhören. Wenn du damit fertig bist und dich reif dafür fühlst, wirklich reif und bereit, dann leg die letzte CD ein. Sie ist ein klein wenig – drüber.«
»Na dann. Nur dass du’s weißt: Jetzt bin ich erst recht auf der Hut.«
»Kann sein, dass du die CD tatsächlich nicht ausstehen kannst«, räumte er ein. »Oder eben doch. Vielleicht ist sie auch die Antwort auf alle Fragen des Lebens. Das ist das Schöne daran. Verstehst du?«
Ich blickte auf die CD in meiner Hand, betrachtete noch einmal das Cover. »Just listen. Hör einfach zu.«
»Ja. Nicht nachdenken, nicht bewerten. Einfach zuhören.«
»Und dann?«
»Dann kannst du dir eine Meinung bilden. Das ist fair, oder?«
Das schien es tatsächlich – fair. Denn egal, ob es um ein Lied geht, eine Person oder eine Geschichte: Das meiste
kann
man nach einem ersten Ausschnitt, einem ersten Blick oder den ersten Noten einer Partitur noch gar nicht durchschauen, begreifen, verstehen. »Ja.« Ich schob die CD unter den Stapel zurück. »Okay. Abgemacht.«
»Grace«, sagte mein Vater und blickte erneut auf die Uhr. »Wird Zeit, dass wir loskommen.«
»Ich weiß, Andrew. Ich bin gleich fertig.« Meine Mutter wuselte durch die Küche, griff nach ihrer Handtasche, hängte sie sich über die Schulter. »Also, Annabel, ich lasse euch Geld da für Pizza heute Abend. Morgen könnt ihr euch machen, was ihr mögt. Ich war gerade erst einkaufen, es ist mehr als genug zu essen im Haus. Okay?«
Ich nickte, während mein Vater sich auf den Weg zur Haustür machte.
»Was habe ich nur wieder mit meinem Schlüssel angestellt?«
»Du brauchst deinen Schlüssel nicht«, erklärte mein Vater. »Ich fahre doch.«
»Und ich werde morgen den ganzen Tag sowie den halben Montag in Charleston die Zeit totschlagen müssen, während du in deinen Meetings bist«, erwiderte sie. Nahm ihre Handtasche wieder von der Schulter und begann, darin herumzuwühlen. »Da kann es durchaus sein, dass ich mal raus möchte aus dem Hotel.«
Nach meiner Einschätzung hatte mein Vater bereits geschlagene zwanzig Minuten in der Garagentür gestanden, bevor er wieder hereingekommen war. Jetzt lehnte er sich gegen den Türpfosten und atmete hörbar durch. Es war Samstagmorgen; meine Eltern sollten schon seit ewigen Zeiten auf dem Weg nach South Carolina sein, zu einer wichtigen Architekturtagung
und
einem gemeinsamen verlängerten Wochenende. »In dem Fall kannst du doch meinen Schlüssel nehmen«, sagte mein Vater. Aber meine Mutter ignorierte ihn und fing an, sämtliche ihrer Siebensachen aus der Handtasche zu nehmen. Reihte Geldbörse, Tempotaschentücher, Handy fein säuberlich nebeneinander auf der Küchentheke auf.
»Grace, bitte. Komm endlich.«
Doch sie rührte sich keinen Millimeter vom Fleck.
Als mein Vater diesen Wochenendtrip vorgeschlagen hatte, meinte er, das sei doch eine großartige Chance, eine ihrer absoluten, gemeinsamen Lieblingsstädte zu besuchen. Ein wunderbarer Ausflug würde das werden, schwärmte er. Während er auf seiner Tagung sei, könne sie shoppen gehen oder die Sehenswürdigkeiten besuchen; abends würden sie in den besten Restaurants
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