Just Listen - Roman
schon sein. Mir fällt nur … momentan nichts Konkretes ein.«
Owen verdrehte bloß die Augen.
»Davon mal abgesehen: Was meinst du damit, niemand ist so wütend wie du? Ich denke, du hast ein Wutbewältigungstraining hinter dir.«
»Und?«
»War nicht Sinn und Zweck der Übung, dass du nicht mehr wütend bist?«
»Das Ziel von Wutbewältigungsstrategien ist nicht, dass man nie mehr wütend ist.«
»Nicht?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Jeder wird mal wütend, das ist unvermeidlich. Doch wie der Name schon sagt: Wutbewältigungstrategien sollen einem helfen, Wut zu bewältigen. Damit umzugehen. Sie auf konstruktivere Art und Weise auszudrücken, als beispielsweise Leute auf Parkplätzen zusammenzuschlagen.«
Am Anfang mochte ich ja noch so meine Zweifel gehabt haben, doch inzwischen wusste ist, dass es schlicht stimmte: Owen sagte grundsätzlich die Wahrheit. Wenn man ihn etwas fragte, bekam man eine ehrliche Antwort. Eine Zeit lang testete ich ihn, indem ich ihn wie beiläufig aufforderte, mir seine Meinung zu sagen, und zwar zu den unterschiedlichsten Themen. Zum Beispiel über meine Klamotten (»Nicht die günstigste Farbe für dich«, meinte er geradeheraus, als ich ihn auf eine neue, pfirsichfarbene Bluse ansprach),über den allerersten Eindruck, den er von mir gehabt hatte (»zu perfektionistisch, total unnahbar«), sowie den Stand seines Liebeslebens (»derzeit nicht vorhanden«).
»Gibt es irgendetwas, das du nicht aussprechen würdest, obwohl du genau das denkst?«, fragte ich ihn eines Tages, nachdem er mir soeben eröffnet hatte, mir stehe mein neuer Haarschnitt zwar gut, er habe mein Haar jedoch länger schöner gefunden. »›Nicht‹ im Sinne von: absolut nicht, unter gar keinen Umständen?«
»Du hast mich gefragt, was ich denke, oder etwa nicht?« Er angelte sich eine Salzbrezel aus der Tüte, die zwischen uns lag. »Warum würdest du das überhaupt tun, wenn du nicht willst, dass ich ehrlich antworte?«
»Ich rede nicht von meinen Haaren, sondern ganz allgemein.« Er warf mir einen zweifelnden Blick zu und steckte sich die Brezel in den Mund.
»Jetzt mal ehrlich, denkst du nie manchmal im Stillen: Das sollte ich besser nicht sagen? Denn möglicherweise wäre das grundfalsch?«
Er überlegte einen Moment. »Nein«, erwiderte er schließlich. »Ich habe dir schon einmal gesagt: Ich kann Lügen nicht ausstehen.«
»Das wäre keine Lüge. Man spricht nur etwas nicht aus.«
»Und du meinst, da gibt es einen Unterschied?«
»Klar. Das eine ist aktive Irreführung. Aber wenn man etwas einfach bloß für sich behält, ist das für mein Gefühl etwas anderes.«
»Ja, trotzdem bist und bleibst du Teil der Irreführung.« Er nahm sich eine weitere Brezel aus der Tüte. »Du machst jemandem etwas vor, und sei es dir selbst.«
Ich sah ihn stumm an, während ich mir das durch den Kopf gehen ließ. »Ich weiß nicht«, sagte ich zögernd.
»Wenn man richtig darüber nachdenkt, ist es eigentlich noch viel schlimmer als lügen. Ich meine, wenigstens dir selbst solltest du doch die Wahrheit eingestehen. Wenn du dir nicht vertrauen kannst, wem kannst du dann vertrauen?«
Ich hätte es nie zugegeben, vor allem ihm gegenüber nicht, aber Owen inspirierte mich. Die kleinen Notlügen, die zu meinem Alltag gehörten, die Dinge, die ich nicht aussprach, jede Situation, in der ich nicht ganz ehrlich war – all das war mir inzwischen deutlich bewusst.
Und
ich merkte, wie gut es mir tat, jemanden getroffen zu haben, dem ich sagen konnte, was ich dachte. Auch wenn es dabei nur um Musik ging. Oder auch nicht.
Eines Tages legte Owen während der Mittagspause seinen Rucksack zwischen uns auf die Mauer, öffnete ihn, zog einen Stapel CDs heraus, schob sie in meine Richtung. »Da. Für dich.«
»Für mich? Was ist das?«
»Ein Überblick. Ich wollte dir noch mehr zusammenstellen, aber mein Brenner hat den Geist aufgegeben. Deshalb konnte ich nur ein paar machen.«
Was Owen unter »ein paar CDs« verstand, waren meiner Zählung nach zehn. Als ich die oberen durchsah, bemerkte ich, dass jede einen Titel hatte: ECHTER HIP-HOP, LIEDER UND SHANTYS (Diverse), ANNEHMBARER JAZZ, RICHTIGE SÄNGER, DIE WIRKLICH SINGEN. Die einzelnen Stücke waren in sauberer Blockschrift darunter aufgelistet. Ich hatte den Verdacht, dass diese CDs das Resultat einer erbitterten Diskussion waren, die Owen und ich am Tag zuvor geführt hatten. Dabei ging es umGrunge und Owen hatte schließlich resümiert, mein Wissen über
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