Justice (German Edition)
Sie hatte es eilig.
Zeni kam die Hauptstraße entlang, bahnte sich einen Weg durch die Verkaufsstände und die Menschen, durch die Autos und die Mülltonnen, den Blick streng nach unten gerichtet. Schließlich schaute sie hoch und sah Milan. Er winkte ihr erfreut zu, aber sie senkte sofort den Blick und verschwand hinter den zahlreichen Schiffscontainern, in denen Schuster, Friseure und Telefonanbieter ihre Geschäfte eingerichtet hatten.
Milan sprang auf und war kurz davor, über die viel befahrene Straße zu laufen, doch er blieb stehen. Er suchte die gegenüberliegende Straßenseite aus der sicheren Entfernung ab und hoffte auf ein Zeichen von dem hübschen Mädchen. Dann sah er sie wieder. Sie kam hinter einem Container hervor und blieb auf dem Bürgersteig stehen. Sie ließ drei Minibustaxis vorbeisausen, bevor sie es wagte, die Straße zu überqueren.
»Hallo, Zeni«, grüßte Milan sie erleichtert. »Schön, dass du gekommen bist.«
Das Mädchen schaute sich nervös um. »Wo fahren wir hin?«
»Ich dachte, zum Strand vielleicht?«
»Gut. Dann lass uns losfahren«, erwiderte sie schnell.
Milan wollte diesmal keine Fragen stellen. Er gab Zeni den zweiten Helm und stieg auf die Vespa. Eine Mutter ging mit ihrem dreijährigen Kind an der Hand vorbei. Das Kind starrte Milan mit großen Augen an. Es zeigte auf die beiden und sagte etwas zu seiner Mutter, was Milan nicht verstehen konnte. Die Mutter blickte flüchtig über die Schulter und zog ihr Kind missbilligend weiter.
Milan und Zeni fuhren nach Camps Bay, einem luxuriösen Vorort, der dicht an einen weiten halbmondförmigen Strand gebaut war. Sie parkten direkt am Wasser und schlenderten barfuß über den goldenen Sand.
Während ihres Spaziergangs erfuhr Milan viel über seine neue Bekannte. Sie war wie er in der zwölften Klasse und musste nur noch ein Jahr zur Schule gehen. Danach wollte sie studieren, wenn sie ihren Abschluss, die Matric, bestanden hatte. Sie tanzte gerne. Im örtlichen Jugendzentrum war sie Mitglied einer Tanzgruppe, die traditionelle Xhosa-Tänze einstudierte. Das Jugendzentrum war ihr überhaupt sehr wichtig. Mit großer Ernsthaftigkeit betonte sie, dass es die einzige Möglichkeit war, die Jugendlichen von der Straße fernzuhalten.
»Du weißt ja«, sagte sie. »Es gibt sehr viele Drogen in Khayelitsha.«
Dann sah Zeni eine Frau, die auf dem Wasser in einem Kanu paddelte. Die Kanufahrerin drehte ständig um, tauchte unter die Wasseroberfläche und schwang sich kurz darauf auf der anderen Seite wieder hoch. Es sah komisch aus, wie sie immer wieder die gleiche Grundtechnik übte, unter- und sofort wieder auftauchte, und Zeni musste lachen. Für Milan war es der Anlass, Zeni von seinem ungewöhnlichen Hobby zu erzählen. Sie hatte noch nie etwas vom Drachenbootfahren gehört und amüsierte sich köstlich darüber. Milan beschrieb die Paddeltechnik, die Dinge, auf die es ankam, die Fehler, die man als Mannschaft begehen konnte. Er erzählte ihr von den Erfolgen und Pannen, von den schönen Zeiten, die die Mannschaft zusammen erlebt hatte, von seinen Kollegen aus dem Team und der deutschen Schule. Und natürlich auch von Herrn Stein, ohne den das alles nicht stattgefunden hätte.
Milan und Zeni waren so ins Gespräch vertieft, dass sie nicht einmal merkten, als der Strand endete. Vor ihnen erstreckten sich Felsen vom Ufer bis weit ins Wasser hinein. Gemeinsam kletterten sie über die Felsblöcke ins Meer hinaus, bis zu dem Punkt, an dem sie nicht mehr weitergehen konnten. Sie setzten sich auf einen der letzten Steine. Er war rund und glatt wie der Bauch eines Wals. Von dort aus schauten sie auf den Atlantik hinaus. Die See war ruhig. Sie schimmerte in der späten Nachmittagssonne. Schweigend betrachteten sie den schönen Anblick, bis schließlich Milan die Stille unterbrach.
»Ich wollte dich fragen«, fing er vorsichtig an, »an was ist dein Vater eigentlich gestorben?«
Zeni zog die Knie unter das Kinn. Ihre Gesichtszüge verloren schlagartig die erfrischende Fröhlichkeit, die Milan bereits so vertraut war, und wurden düster, als wären schwere Wolken am Himmel aufgezogen.
»Er war Polizist«, antwortete sie. »Er kam bei einem Einsatz ums Leben.«
Milan pfiff durch die Zähne. »Echt?«, fragte er überrascht. »Was war das für ein Einsatz?«
»Eine Razzia. Bei Dealern in Langa. Er wurde erschossen. Einen Monat später kam ich auf die Welt.«
Schweigend ließ sich Milan das schreckliche Schicksal durch den Kopf
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