Justice (German Edition)
Eine Serie lief im Fernsehen, aber Milan schaute nicht hin. Südafrika präsentierte sich von seiner multikulturellen Seite. Die Schauspieler wechselten flüssig zwischen Englisch, Xhosa, Afrikaans und Zulu. Untertitel ermöglichten das Verständnis für diejenigen, die nicht alle elf Amtssprachen des Landes beherrschten. Aber die dramatischen Dialoge im Fernsehen dienten Milan nur als wohlige Geräuschkulisse im Hintergrund. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und dachte an Zeni. Er stellte sich ihr Leben vor, ihr Haus in Khayelitsha, ihre Mutter, Schwestern und Verwandten, ihre Schule und Freunde, ihren Alltag. Er machte sich ein Bild von Zeni und sich als Paar und malte sich zahlreiche Situationen aus: wie sie Hand in Hand durch die Stadt gehen würden – aber auch durchs Township –, wie sie in Cafés sitzen würden und wie es wäre, wenn die Familien zusammenkämen. Er versuchte, sich das Unvorstellbare vorstellbar zu machen. Hier in der Stadt sah man gelegentlich gemischte Paare. Am Wochenende in der Long Street mischten sich Menschen aller Herkunft ungehemmt untereinander. Alexander hatte unrecht. Es war möglich, auch wenn ihre Welten noch so unterschiedlich waren.
Gleichzeitig freute sich Milan auf den nächsten Tag. Er war gespannt, ob Zeni seine Einladung annehmen würde. Im Nachhinein war ihm klar, warum sie lieber allein nach Hause gehen wollte. In seinem Eifer hatte er die Situation unterschätzt. Sie wollte sich nur schützen. Vor den neugierigen Blicken und dem leeren Geschwätz. Vor dem Gerede und den üblichen Vorurteilen. Milan hoffte nun, dass die Angst vor solchem Gerede Zeni nicht von einem baldigen Wiedersehen abhalten würde. Sie wirkte stark und eigenwillig, nicht wie eine, die sich von den Erwartungen der anderen lenken ließ. Hoffentlich war sie stark genug.
Milan war so in Gedanken vertieft, dass er nicht bemerkte, wie die Serie zu Ende ging und die Spätnachrichten begannen. Erst als der Mord am Kongresszentrum erwähnt wurde, wurde er plötzlich wieder aufmerksam. Er richtete sich in seinem Bett auf und blickte zum Fernsehgerät. Ein Reporter stand an der gleichen Stelle, an der Milan vor nur wenigen Stunden vorbeigefahren war. Hinter dem Fernsehreporter war sogar die blaue Plastikplane zu sehen. Das Bein des Opfers war mittlerweile zugedeckt worden.
»Der Apartheid-Killer hat wieder zugeschlagen«, erklärte der Reporter mit ernster Miene. »Heute wurde vor dem Kongresszentrum in Kapstadt der ehemalige Polizeipräsident aus Gauteng ermordet – wieder durch einen Schuss aus nächster Nähe. Es ist der zehnte Mord des Apartheid-Killers in den letzten sechs Monaten.«
Seit dem ersten Mord an einem Wissenschaftler, der das Biowaffenprogramm des Apartheid-Regimes geleitet hatte, verfolgte Milan die Mordserie mit großem Interesse. Wie viele andere Menschen im Land war Milan neugierig und geschockt zugleich. Er konnte sich nicht vorstellen, was das für ein Mensch war, der so viele Morde beging.
Erst nach dem dritten Mord hatte die Polizei festgestellt, dass es sich eindeutig um einen Rachefeldzug handelte: Vergeltungsmorde für angeblich politisch motivierte Verbrechen unter dem damaligen Apartheid-Regime. Fälle, die nie vor ein Gericht oder vor die Wahrheitskommission gekommen waren. Inzwischen wurden Männer und Frauen aus allen Bereichen des repressiven Staatsapparats umgebracht – von Polizisten über Informanten bis hin zu den hochrangigsten Entscheidungsträgern der damaligen Regierung. Für viele Menschen brachte der Apartheid-Killer jene Arbeit zu Ende, an der die Wahrheits- und Versöhnungskommission Ende der 90er-Jahre gescheitert war: Er sorgte für Gerechtigkeit. Für andere war er einfach verrückt. Milan sah beides in ihm.
»Bei mir, um den neuesten Fall zu besprechen, ist der Polizeipräsident von Kapstadt, Herr Abbot«, fuhr der Reporter fort. Neben ihm stand ein alter Mann mit kleinen Knopfaugen und einer langen spitzen Nase. »Guten Abend, Herr Abbot. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben.«
»Guten Abend«, räusperte sich der Polizeichef.
»Kannten Sie Herrn Rice persönlich?«
»Ja natürlich«, erwiderte Abbot sichtlich berührt. »Er war bis ’92 im Amt. Ein ausgezeichneter Mann und ein guter Polizist. Dieser Mord ist grundlos und barbarisch.«
»Was halten Sie von der Namensliste, die auf seinem Leichnam gefunden wurde?«
Der Polizeichef reagierte aufgebracht. »Auf der Liste stehen acht Namen von Personen, die seit den zivilen
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