Justice (German Edition)
gehen. Dann fragte er: »Kam er auch aus Khayelitsha?«
Zeni schüttelte den Kopf. »Nein. Er wohnte in Pinelands, in einem Polizeiquartier für schwarze Polizisten.«
»Wie sind deine Eltern zusammengekommen?«
Zeni blickte zum Meer. Ihre Augen waren wieder hell und wach. »Sie haben sich bei einer Demo in Kapstadt Anfang der 80er kennengelernt. Tausende Menschen gingen auf die Straße und forderten die Entlassung von Nelson Mandela. Mein Vater war auch dabei. Im Einsatz natürlich.«
Verblüfft zog Milan die Stirn in Falten, denn er wusste, dass Schwarze und Farbige, die während der Apartheid für die Polizei gearbeitet hatten, als Verräter betrachtet wurden.
»Es war ein sehr heißer Tag«, setzte Zeni die Geschichte fort. »Meine Mutter war irgendwie krank und hatte Fieber. Sie ist einfach zusammengebrochen. Mein Vater kam ihr zu Hilfe. Es war Liebe auf den ersten Blick. Sie haben sofort geheiratet. Meine Schwester Jessica wurde kurz darauf geboren.«
Milan lächelte erfreut. Die Freiheitskämpferin und der Staatspolizist lernen sich auf einer Demonstration kennen und lieben – eine Geschichte wie aus einem Märchen.
»Und wo kam deine Mutter her?«, fragte er.
Zeni schaute auf das Wasser und den weiten Horizont.
»Meine Mutter kam aus KwaZulu, aus den Homelands. Aber vorher hat sie mit ihren Eltern in Kapstadt gewohnt. Im District Six.«
Der Name dieses Ortes bedurfte für Milan keinerlei Erklärung. Es war ein allseits bekanntes Viertel in Kapstadt, zwischen dem Zentrum und dem Hafen, einst eine sehr lebendige Gegend, voller Menschen aller Hautfarben. Aber in den 60er-Jahren erklärte die Regierung das Viertel zu einer sogenannten »weißen Zone«. Sie ordnete die Zwangsumsiedlung der Bewohner an. Die Leute wurden gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und in Townships außerhalb der Stadt zu ziehen. Die Bulldozer kamen und walzten alles außer ein paar Kirchen und Moscheen platt.
»Sind sie umgesiedelt worden?«, fragte Milan.
»Ja. 1968«, sagte Zeni.
Milan senkte den Blick. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Menschen so unbarmherzig sein konnten, so skrupellos wie die Drahtzieher der Apartheid. District Six war nur eines von vielen Gebieten, die die weiße Apartheid-Regierung für sich und ihre Leute räumte. Sie ließen ihre schwarzen Mitbürger mit dem kleinsten und auch ärmsten Teil ihres Landes zurück. Es war kriminell – auch wenn sie alles im Namen des Gesetzes getan hatten.
»Ich glaube, das war der Grund, warum sich mein Großvater der Widerstandsbewegung anschloss«, erklärte Zeni und fügte mit trauriger Stimme hinzu: »Aber es wäre für meine Mutter besser gewesen, wenn er darauf verzichtet hätte.«
»Warum?«
»Weil er verhaftet wurde und nie wieder nach Hause kam.«
Milan fuhr erschrocken zusammen. »Wurde er umgebracht?«
Zeni versuchte zu lächeln und zuckte mit den Schultern. »Wenn ja, dann gibt es niemand zu. Die Behörden haben gesagt, er habe im Gefängnis Selbstmord begangen, aber das glaube ich nicht.«
Milan drehte sich der Magen um. Es waren seine weißen Landsleute, die die Schuld daran trugen.
»Habt ihr die vermeintliche Todesursache denn nicht angefochten?«, fragte Milan.
Zeni schüttelte den Kopf und senkte den Blick. »Wir können nichts beweisen.« Sie betrachtete ihre Füße und wackelte mit den Zehen, als ob sie überprüfen wollte, ob sie sie noch bewegen konnte.
Milan starrte auf den Strand. Weiße, Schwarze und Farbige mischten sich unbekümmert untereinander. Kinder verschiedener Herkunft buddelten im Sand, liefen kreischend in die heranrollenden Wellen und suchten nach Muscheln. Männer und Frauen schauten ihnen zu, gingen spazieren, tauschten sich mit ihren Freunden und Familien aus und warteten auf die Abenddämmerung, die sie nach Hause schicken würde. Hier gab es keine Rassentrennung mehr. Noch vor zwanzig Jahren wäre das nicht denkbar gewesen.
»Und wie kommst du damit klar, dass da draußen einer frei herumläuft, der den Tod deines Großvaters auf dem Gewissen hat? Ich meine, ich weiß nicht, wie man sich mit so etwas abfinden kann.«
Zeni schaute auf das Wasser. »Es hört sich vielleicht ein bisschen seltsam an, aber ich habe mich dafür entschieden«, erklärte sie. »Ich will nicht immer das Gefühl haben, dass ich etwas vermisse. Ich will nicht wütend sein, weil mir etwas Wichtiges genommen wurde. Mein Vater ist tot, mein Großvater wurde möglicherweise ermordet. Ich habe viel verloren. Aber ich muss nach vorne schauen,
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