Justice (German Edition)
sprach er in beherrschtem Ton weiter. »Es ist Zeit, dass dir das bewusst wird. Ich bin dein Lehrer und dein Drachenboottrainer. Mehr nicht. Du musst aufhören, Sachen auf mich zu projizieren. Ich habe mit deinem Leben nichts zu tun. Und du mit meinem auch nicht – egal, wie du das siehst.«
Stein machte einen Schritt auf Milan zu und schaute ihn fast mitleidig an.
»Ich kann nicht dein Vater sein«, sagte er gequält. »Das musst du doch endlich verstehen.«
Milan senkte beschämt den Kopf. Steins Worte trafen ihn wie ein Faustschlag in den Magen. Sie taten ihm weh, eben weil sie der Wahrheit entsprachen. Seit Jahren lief Milan Herrn Stein hinterher, das stimmte schon. Er hatte den Drachenboottrainer angehimmelt, sogar vergöttert. Milan wusste es, auch wenn er es selbst nie zugegeben hätte. In Milan wirbelte ein Strudel widersprüchlicher Emotionen hoch: Scham, Zorn und das bittere Gefühl, betrogen worden zu sein.
Schließlich gab er nach. »Es tut mir leid«, sagte Milan leise. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«
Stein schenkte ihm ein trauriges Lächeln. »Ist schon gut«, sagte er versöhnlich und wandte sich wieder seinen Büchern zu. »Aber jetzt brauche ich ein bisschen Ruhe, um mich auf den Tag zu vorbereiten.«
Milan nickte. Er blieb noch kurz stehen und betrachtete seinen Geschichtslehrer, der mit penibler Genauigkeit seine Sachen auf dem Schreibtisch ordnete. Dann verließ er wortlos den Raum.
Für den Rest des Tages begegnete er Herrn Stein kein einziges Mal mehr, doch das Gespräch, das sie am frühen Morgen in seinem Zimmer geführt hatten, ließ Milan nicht mehr los. Satz für Satz nahm er den Wortwechsel in Gedanken noch einmal auseinander. Er erinnerte sich an jede Bewegung, an jeden Blick und wurde das Gefühl nicht los, dass Stein ihn angelogen hatte. Das hatte er in seinen Augen gesehen. Der starre Blick. Das gequälte Lächeln. Der unerwartete Ausraster.
Nach der letzten Stunde verließ Milan die Schule und wartete auf seiner Vespa an der nächsten Ecke. Die deutsche Schule befand sich am Fuße des Lion’s Head und die Straße davor verlief steil den Berg hinauf. Fast alle Autos, die das Schulgelände verließen, fuhren bergab, Richtung Innenstadt. Milan wartete oben, hinter Bäumen versteckt, und beobachtete die Schuleinfahrt. Allmählich wurde es ruhiger. Jetzt fuhren nur noch die älteren Schüler mit dem Rad nach Hause. Schließlich schien der letzte Schüler das Gelände verlassen zu haben. Danach machten sich auch die ersten Lehrer auf den Heimweg. Sie fuhren einer nach dem anderen durch das Schultor und verschwanden mit ihren Autos am Ende der Straße.
Als hätte es Milan gewusst, war Herr Stein der Letzte, der die Schule verließ. Er hielt neben dem Sicherheitsbeamten am Schultor an und plauderte eine Weile mit ihm. Dann verabschiedete er sich mit einem freundlichen Handschlag und fuhr weiter. Herr Stein besaß einen alten Volkswagen Citi, ein beliebtes Modell auf den Straßen von Kapstadt. Das machte es allerdings für Milan nicht leicht, seinen Geschichtslehrer zu beschatten.
Milan startete den Motor und folgte dem roten VW. Stein bog nach links auf die Kloof Nek Road ab, dann wieder nach rechts. Bald kam er auf den kurvenreichen De Waal Drive, der sich eng am Fuße des Tafelbergs entlangschlängelte. Stein fuhr Richtung Norden. Milan ließ ihn nicht aus den Augen, hielt aber stets einen sicheren Abstand.
Hinter der Universität fuhr Herr Stein auf die Autobahn. Er blieb jedoch nicht lange auf der überfüllten Schnellstraße, sondern verließ sie bei der dritten Ausfahrt und fuhr in einen Stadtteil namens Athlone hinein. Die zwei wuchtigen Türme des stillgelegten Kohlekraftwerks, die das Viertel unverwechselbar machten, ragten in den Himmel. Stein fuhr am Fußballstadion vorbei und bog in das Wohngebiet ab. Der rote VW bahnte sich seinen Weg immer tiefer in das Labyrinth der eng vernetzten Straßen. Athlone war ein ordentliches und ruhiges Viertel. Die Nebenstraßen waren mit kleinen Häusern mit hübschen Vorgärten und niedrigen Mauern gesäumt.
In einer Straße namens Gemini Street hielt Stein vor einem einstöckigen Haus an. Die schmale Einfahrt, die gerade groß genug für ein einziges Auto war, stand leer. Milan hielt an der Ecke an und beobachtete seinen Geschichtslehrer durch einen Zaun. Stein stieg aus dem Auto, ging zur Haustür und schloss sie auf. Hier wohnte Stein? Ursprünglich war der Stadtteil Athlone ein Township für Farbige gewesen und
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