Justice (German Edition)
hatte als Zwischenlager für die städtische Umsiedlungspolitik der Apartheid gedient. Noch heute lebte hauptsächlich die farbige Bevölkerung in Athlone. Milan hätte nie erwartet, dass auch Herr Stein hier wohnen würde.
Milan schloss seine Vespa ab und ging zu Fuß die Gemini Street entlang. Die Straße war ruhig. Auf einer Seite erstreckte sich eine kleine Parkanlage, die mit zwei Schaukeln und einem wenig beeindruckenden Klettergerüst ausgestattet war. Sie war menschenleer. Auch auf den schmalen Gehwegen entdeckte er niemanden. Neben Steins Haus tauchte ein älterer Herr im Vorgarten auf.
Auf wackeligen Beinen rollte er einen langen Wasserschlauch ab, um seine Pflanzen zu gießen. Er sah den Jungen auf der gegenüberliegenden Straßenseite nicht. Auch nicht, als Milan die Straße überquerte und sich hinter der Mauer versteckte, die Steins Haus vom Bürgersteig trennte.
Das Haus war klein. Es hatte vielleicht zwei oder drei Zimmer, nicht mehr. Die Vorhänge waren zugezogen und verhinderten einen Blick ins Innere. Von draußen wirkte es sehr gemütlich. Es passte zu seinem Besitzer. Natürlich lebte der Geschichtslehrer nicht in einer solch großen Behausung wie Milans Familie. Auch nicht in einer Wohnung mit Meerblick. Hier war Herr Stein zu Hause, unter ganz normalen Menschen. Menschen, die während der Apartheid ein Leben ganz ohne Privilegien geführt hatten.
Plötzlich ging die Haustür auf und Herr Stein kam heraus. Er hatte sich umgezogen und trug jetzt ein langärmeliges Shirt und eine Jeans. Von seiner Schulter hing die vertraute Ledertasche. Er schaute kurz zum Himmel hoch und setzte sich eine Sonnenbrille auf.
Während Stein die Haustür verschloss, schlich Milan geduckt an der Außenmauer entlang und eilte über die Straße. Er suchte Deckung in der kleinen Parkanlage und versteckte sich hinter einem Baum. Aus dieser sicheren Entfernung sah er, wie Stein den Gartenweg entlangging. Dabei grüßte er freundlich seinen Nachbarn und stieg wieder ins Auto. Kurz darauf fuhr er an der Parkanlage vorbei. Als der rote Volkswagen das Ende der Straße erreichte und nach links abbog, sprang Milan auf, lief zu seinem Roller und raste Stein hinterher.
Zu Milans großer Überraschung fuhr Stein in die Stadt zurück, fast den gleichen Weg, den er vor einer halben Stunde stadtauswärts genommen hatte. Diesmal allerdings nicht zur Schule, sondern er steuerte aufs Zentrum zu. Er stellte seinen Wagen in einem Parkhaus auf der Roland Street ab und ging zu Fuß weiter. Nach ein paar Hundert Metern betrat er ein großes Gebäude und verschwand darin. Milan, der seine Vespa in der Nähe des Parkhauses stehen ließ, eilte Stein hinterher und blieb vor dem prächtigen Kolonialgebäude stehen. Es war das Staatsarchiv.
Milan wartete noch einen Augenblick, dann folgte er seinem Geschichtslehrer hinein. Im Foyer schaute er sich unsicher um. Es war sehr geräumig, die hohe gewölbte Decke war mit kunstreicher Stuckarbeit dekoriert. Milans Schritte hallten durch die fast leere Eingangshalle, als er über den Marmorboden auf den Empfang zuging. Links davon führte eine große zweiflügelige Tür zum Lesesaal. Rechts wand sich eine Wendeltreppe zu den Archiven hoch. Die Luft war stickig, die Eingangshalle roch nach Reinigungsmittel. Milan schaute über die Schulter zurück. Zwei Sicherheitsbeamte saßen auf beiden Seiten des Eingangs. Einer las Zeitung, der andere blickte Milan gelangweilt hinterher.
Hinter dem Empfang saß eine adrett gekleidete Frau. Als Milan vor ihr stehen blieb, schaute sie ihn fragend an und bemühte sich zu lächeln.
»Was kann ich für dich tun, junger Mann?«, fragte sie höflich.
»Ich ... ich bin zum ersten Mal hier«, stammelte Milan unsicher.
»Dann hast du keinen Archivausweis?«, schlussfolgerte die Empfangsdame sachlich. Sie nahm ein Blatt von ihrem Schreibtisch und reichte es Milan über den Tresen. »Füll einfach das hier aus. Für welchen Bereich interessierst du dich?«
Milan schaute das leere Formular überfordert an. »Welche Bereiche gibt es denn?«
Die Frau atmete geräuschvoll aus und rollte demonstrativ mit den Augen, vermutlich, weil sie es hier mit einem blutigen Anfänger zu tun hatte.
»Die genealogische Abteilung ist unser meist frequentierter Bereich«, sagte sie gelangweilt. »Wir haben hier aber auch Staatsakten und Privatakten. Zugang zur Mikrofilmabteilung wird nur mit einer Sondergenehmigung gestattet. Im Lesesaal darfst du nur Bleistifte verwenden.
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