Justice (German Edition)
Nachbarn in seinem Kopf: Ich habe die Schusswunde gesehen. Eine einzige Kugel aus nächster Nähe. Es war der Apartheid-Killer. Er sah seine Tränen, seine zittrigen Hände, die tiefe Trauer in seinen Augen. Milan kämpfte krampfhaft damit, seine stürmischen Gedanken zu ordnen.
Dann dachte er an den gelben Zettel in Steins Hand. Das Blatt, auf dem Catherine de Konings Name geschrieben worden war. Eine gemeinsame Bekannte , hatte sein Großvater gesagt. Kurt wollte sie wiederfinden. Hat er sie denn gefunden? War das das Ergebnis des Treffens? Dass Catherine de Koning jetzt tot war? Gab es einen Zusammenhang zwischen Herrn Stein und dem Apartheid-Killer? Bei diesem schrecklichen Gedanken wurde Milan schwindelig.
Morgens verließ der Junge schon früh das Haus und kam in die Schule, noch bevor die meisten Lehrer überhaupt da waren. Er stieg die Außentreppe hoch und betrat das Gebäude, das hauptsächlich der Oberstufe diente. Er war sich sicher, dass sein Geschichtslehrer da sein würde. Mit rasendem Herzen klopfte er an die Tür und stellte fest, dass er sich nicht geirrt hatte. Herr Stein packte gerade seine Sachen aus, als Milan den Raum betrat. Er war sichtlich überrascht über den frühen Besuch.
»Hallo, Milan!«, sagte er freundlich. »Was verschafft mir die Ehre so früh am Morgen?«
Milan blieb auf halber Strecke zwischen der offenen Tür und Steins Schreibtisch stehen. Er hatte einen seltsam fahlen Geschmack im Mund. Er blickte aus dem Klassenzimmerfenster. Der Pausenhof war leer. Er war mit Herrn Stein ganz allein.
»Ich war gestern Abend bei Catherine de Koning«, antwortete er knapp, aber vielsagend.
Stein zuckte nicht einmal mit der Wimper. In aller Ruhe nahm er die Bücher einzeln aus seiner Ledertasche.
»Ich habe die Nachricht schon im Radio gehört«, sagte er mit erstaunlicher Gelassenheit. »Was hast du dort gemacht?«
»Ich war da, als ihre Leiche aus dem Haus getragen wurde«, erwiderte Milan schonungslos und sah kein Anzeichen in Steins Gesicht, das Überraschung oder Betroffenheit verriet. »Ich habe de Konings Namen bei meinem Großvater gefunden. In einer Zeitschrift. Sie war die Frau, die Sie gesucht haben, stimmt’s? Mein Großvater hat Ihnen ihre Adresse gegeben?«
Jeder Muskel in Milans Körper spannte sich an, jeder Nerv schlug Alarm. Stein überprüfte den Rücken des Buches, das er gerade aus seiner Tasche nahm, und legte es auf den Schreibtisch.
»Ich finde das ganz schön dreist von dir, Milan«, sagte er leise. »Spionierst du mir etwa hinterher?«
»Ich finde es nur seltsam«, beharrte Milan. »Sie waren bei meinem Großvater am Abend davor. Er gibt Ihnen die Adresse von Catherine de Koning – das habe ich gesehen – und am nächsten Tag ist er verreist. Von heute auf morgen. Und jetzt ist die Frau tot.«
Stein schaute Milan direkt in die Augen. »Was soll ich dazu sagen?«, seufzte er. »Dein Großvater hatte mir nur geholfen, Catherine aufzuspüren, ja. Er kannte sie. Aber ich habe mit ihrem Mord nichts zu tun. Im Gegenteil. Ich hätte sie gerne noch mal gesehen.«
Milan musterte Stein scharf. »Was wollten Sie von ihr?«
Stein atmete tief ein und unterdrückte seinen Ärger. »Ich weiß nicht, was dich das angeht«, zischte er und verlor langsam die Geduld. »Was ist das hier? Ein Verhör?«
»Ich will nur die Wahrheit wissen«, sagte Milan ruhig.
Auf einmal schlug Herr Stein mit der Faust auf den Schreibtisch und brüllte: »Herrgott noch mal, Milan! Was bildest du dir ein? Du kommst in mein Zimmer reinmarschiert und stellst mir Fragen über mein Privatleben, als ob du ein Recht darauf hättest. Und dann besitzt du auch noch die Frechheit, meine Worte infrage zu stellen. Glaubst du wirklich, ich habe irgendetwas mit dem Mord an Catherine de Koning zu tun? Für wen hältst du mich? Den Apartheid-Killer?« Stein schnaubte verärgert. »Ich bitte dich! Du solltest nicht vergessen: Du bist mein Schüler, nicht mein Sohn. Was ich außerhalb dieser vier Wände mache, geht dich nichts an. Gar nichts. Das müsste dir eigentlich klar sein.«
Stein verharrte einen Augenblick und schaute seinen Schüler herausfordernd an. Er atmete schwer. Sein Gesicht war rot geworden. Die Adern an seiner Stirn waren tiefblau und geschwollen. Milan erstarrte. So wütend hatte er seinen Geschichtslehrer noch nie erlebt.
Stein atmete noch mal tief ein und senkte die Stimme.
»Es tut mir leid, dass dein Vater so selten für dich da ist, aber ich kann ihn leider nicht ersetzen«,
Weitere Kostenlose Bücher