Justice (German Edition)
Badesachen in seine Tasche und kehrte zum Auto zurück.
Die nächste Strecke seines morgendlichen Ausflugs fiel deutlich kürzer aus. Stein fuhr zu einem Küstenort, der gerade aus dem Schlaf erwachte. Hier ließ sich der Geschichtslehrer in einem gemütlichen Café mit Meerblick nieder. Er bestellte sich einen Kaffee und las die Zeitung. Von der Promenade aus behielt ihn Milan im Auge. Neben ihm fuhr die Bahn, dahinter erstreckte sich ein weitläufiger Strand, der ebenfalls menschenleer war.
Milan wartete. Doch es passierte nichts. Er fragte sich, wie lange er noch an Steins freiem Tag dem einsamen Mann folgen sollte – und ob es sich überhaupt lohnte –, bis ein Auto vor dem Café anhielt und eine Frau ausstieg. Der Fahrer, ein farbiger Mann in Steins Alter, ließ die Frau aussteigen und fuhr weiter. Die Dame schaute dem Auto mit einem melancholischen Blick hinterher. Mit ihren ergrauten Haaren, die zu einem Dutt zusammengeknotet waren, schätze Milan sie auf um die Sechzig. Sie war etwas rundlich, trug ein Sommerkleid mit Blumenmuster und war ebenfalls farbig. Sie hatte ein rundes Gesicht, das mit Altersflecken oder Sommersprossen gesprenkelt war. Ihre Augen wirkten traurig. Nichtsdestotrotz hatte die Frau etwas Anmutiges. Sie strahlte eine Gelassenheit und Würde aus, als könnte sie nichts auf der Welt mehr überraschen. Sie drehte sich auf dem Bürgersteig um und betrat das Café.
Sobald die Tür hinter ihr zufiel, schaute Herr Stein von seiner Zeitung auf, als hätte er die Frau an ihren Schritten erkannt. Er sprang auf und wartete am Tisch auf sie. Die beiden begegneten sich mit einem freudigen Lächeln und gaben sich respektvoll die Hand. Die Berührung war nur kurz, eher förmlich, aber sie reichte aus, um Milan erkennen zu lassen, dass diese Frau Stein etwas bedeutete. Es war das erste Mal in fünf Tagen, dass er den Geschichtslehrer lächeln sah.
Milan musste an die Geschichte denken, die ihm sein Großvater über Herrn Stein erzählt hatte. Über das illegale Verhältnis zwischen ihm und einer farbigen Frau. War sie das? Dorothy? Die Dame, die jetzt mit Herrn Stein am Tisch saß und Kaffee trank? Die coloured Frau, für die er ins Gefängnis gekommen war? Und war ihre verbotene Liebe die Ursache der Traurigkeit, die sich in ihren Augen spiegelte? War es vielleicht ihr Name, der auf Steins Oberarm tätowiert war?
Leider konnte Milan nichts von dem Gespräch hören, aber sogar aus der weiten Entfernung fiel ihm auf, wie vertraut Stein und die Frau miteinander umgingen. Sie kamen abwechselnd zu Wort, hörten einander zu und verhielten sich ruhig und ernst. Es sah aus, als ob sie Stein Informationen übermittelte, denn er nickte lediglich zustimmend. Die Unterhaltung dauerte eine knappe halbe Stunde. Dann zog Stein sein Portemonnaie aus der Hosentasche und drückte der Frau Geld in die Hand. Zuerst wollte sie es nicht annehmen, aber Stein bestand drauf. Sie bedankte sich und stand auf. Wie gerufen, erschien das Auto wieder vor dem Café. Der Mann am Steuer blickte durch die Glasscheibe des Lokals zu Herrn Stein. Die beiden Männer nickten einander respektvoll zu. Dann kam die Frau aus der Tür und stieg in den Wagen, der sofort losfuhr. Stein setzte sich wieder hin, bestellte sich etwas bei der Kellnerin und blätterte weiter in der Zeitung.
Irgendetwas an der Frau erinnerte Milan an Zeni. Als Farbige war sie natürlich hellhäutiger als das Xhosa-Mädchen aus dem Township. Aber die Art und Weise, wie sie sich bewegte, die Ruhe und Bescheidenheit, die sie ausstrahlte, ähnelten der von Zeni. Sie war stolz, genau wie Zeni. Sie besaß Würde, wie ein Mensch, der viel gelitten hatte, aber nie daran kaputtgegangen war, sondern sich immer wieder aufraffte; ein Mensch, der wusste, wie es ganz unten aussieht. Vielleicht waren es aber auch ihre großen braunen Augen, vielleicht sogar ihr trauriger Blick, der dem von Zeni sehr ähnlich war. Milan stellte sich die Dame mittleren Alters als junge Frau vor. Sie war bestimmt genauso hübsch gewesen wie Zeni.
Auf einmal wurde sich Milan bewusst, dass er Zeni seit dem vergangenen Wochenende nicht mehr gesehen hatte. Sie hatten zwar jeden Tag kurz telefoniert, doch Milan war kein einziges Mal nach Khayelitsha gefahren. Immer wieder schob er seine Schularbeiten als Ausrede vor. Er war besessen von Herrn Stein. Aber indem der Junge seinem Verdacht nachging, drängte er Zeni – den Menschen, der ihm so viel bedeutete – immer weiter von sich. Er schämte sich für
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