Justice (German Edition)
Tag in der Schule stand Milans neue Frisur im Mittelpunkt. Mit seinen kurzen Haaren sah er aus wie ein Schläger. Ohne die sanften Konturen seiner Locken wirkte sein Gesicht hart und verbissen. Auch Herr Stein äußerte seine Überraschung über die plötzliche Wandlung seines Schülers, obwohl Milan stark davon ausging, dass er das Phantombild in den Nachrichten ebenfalls gesehen hatte. Stein hätte Milan natürlich erkannt, weil er von seinem Besuch im Kerkweg wusste. Ansonsten mied Herr Stein Milan den ganzen Tag über. Im Unterricht ignorierte er ihn vollkommen. Auch gegenüber den anderen Schülern war er auffällig gereizt. Er blaffte jeden an, der auch nur annähernd etwas Falsches sagte.
»Was ist heute mit Stein los?«, flüsterte Alexander Milan zu, als sie gemeinsam das Klassenzimmer verließen. »Ist der auf Kaffee-Entzug, oder was?«
Das seltsame Verhalten seines Geschichtslehrers verstärkte nur Milans Verdacht, dass er in Verbindung mit dem Mord an Catherine de Koning stand. Nach der Schule wartete er erneut auf dem Hügel, bis Stein – wie immer als Letzter – das Schulgelände verließ. Zum zweiten Mal folgte er seinem Lehrer durch Kapstadt, bis er am Nachmittag zum Drachenboottraining an der Waterfront fuhr. Stein verhielt sich dabei unauffällig und Milan blieb weiter im Dunkeln. Trotzdem war seine Neugierde nicht gestillt. Er setzte seine Beschattung fort. Jeden Tag nach der Schule wartete er auf ihn und fuhr dem roten VW Citi hinterher.
Im Lauf der Woche gewann Milan einen intimen Einblick in das Leben seines Geschichtslehrers. Stein teilte seine Freizeit mit gezielter Routine auf. Es war ein Ablauf, der fast wie ein Ritual wirkte. Als Erstes wechselte er seine Kleidung und packte seine Tasche um. Entweder zu Hause oder – wenn er zu wenig Zeit hatte – in der Schule. Anschließend fuhr er in die Stadt und verbrachte mehrere Stunden bei einer der vielen städtischen Behörden: Am Dienstag schaute er in der Stadtbibliothek vorbei, am Mittwoch recherchierte er beim Grundbuchamt, am Donnerstag nutzte er die längeren Öffnungszeiten beim Staatsarchiv und am Freitag vor dem Training ging er in die Büros des Kapstädter Zeitungsverlags Cape Argus und trank einen Kaffee mit einer sympathisch aussehenden Journalistin. Abends fuhr er immer nach Hause und blieb dann allein. Zweimal die Woche leitete er das Drachenboottraining. Und jeden zweiten Samstag. Ansonsten führte Stein ein einsames Leben zwischen Schule, den stillen Lesetischen der verschiedenen Archive und seinem kleinen, gemütlichen Haus in Athlone.
Auch am Wochenende konnte Milan seine Neugierde nicht bändigen. Am Samstag, bereits bei Tagesanbruch, machte er sich auf den Weg nach Athlone, um die ersten Schritte seines Geschichtslehrers im Auge zu behalten. Er ahnte schon, dass Stein kein Langschläfer war und früh unterwegs sein würde – und er hatte recht. Stein war schon auf, als Milan dort ankam, und verließ kurz danach das Haus. Er fuhr aus der Stadt Richtung Kap der Guten Hoffnung. Milan hatte Schwierigkeiten, seinem Geschichtslehrer auf den Fersen zu bleiben, denn es gab kaum Autos auf der Straße und er musste einen immer größeren Abstand halten. Doch Milan blieb unentdeckt und folgte seinem Lehrer bis zur Küste.
Dort nahm Stein einen einsamen Weg, der zu einer kleinen Bucht führte. Der Ort war menschenleer und wunderschön. Dichte Bäume umringten den sandigen Strand. Hier zog sich Stein bis auf die Badehose aus. Zum ersten Mal sah Milan Steins nackten Oberkörper. Beim Drachenboottraining trug er immer ein langärmeliges Neoprenoberteil mit hohem Kragen und zog sich im Bootshaus um. Jetzt verstand Milan auch, warum: An Steins linkem Oberarm war eine Tätowierung. Ein rotes Herz, umschlungen von einem Dornenbusch, ein Name in der Mitte, den Milan aus der Entfernung nicht lesen konnte. Deswegen also trug er nie ein kurzärmeliges Hemd im Sommer.
Stein stieg ohne zu zögern ins eiskalte Wasser und schwamm in die Bucht hinaus. Auch im Sommer trauten sich die wenigsten Einheimischen aufgrund der niedrigen Wassertemperaturen ins Meer. Die eisigen Strömungen um das Kap der Guten Hoffnung kamen oft aus den Gewässern der Antarktisgegend. Dem Geschichtslehrer schien die Kälte nichts auszumachen, auch ohne Neoprenanzug. Er schwamm weit ins offene Meer hinaus. Als er endlich wieder zum Strand zurückkam, brach die Sonne durch die dunklen Wolken. Nachdem Stein sich abgetrocknet und wieder angezogen hatte, packte er seine
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