Justice (German Edition)
Pistole aus der Kiste hervorholte und den Clip abmachte. Dann nahm er die Patronen aus dem braunen Karton und lud das Magazin. Nachdem er den Clip in dem Lademechanismus wieder festgemacht hatte, legte er die Waffe in die Kiste zurück. Er drehte sich um, die geschlossene Metallkiste in der Hand, und verschwand seitlich aus Milans Blickfeld. Plötzlich hörte Milan, wie sich auf der anderen Seite der Haustür der Schlüssel im Schloss drehte.
Ruckartig duckte er sich und flitzte lautlos um die Ecke. Stein öffnete die Tür und trat in den frischen Abend hinaus. Milan versteckte sich hinter den Mülltonnen an der Hausseite. Von dort aus sah er, wie sein Geschichtslehrer den Gartenweg entlangging, die Metallkiste fest in der Hand. Er trug einen grauen Mantel und einen eleganten Filzhut. Mit der dünnen silbernen Brille, die auf seinem Nasenrücken balancierte, sah er aus wie ein Versicherungsvertreter oder ein gut bezahlter Bankangestellter. Von hinten war er jedenfalls kaum wiederzuerkennen.
Stein öffnete die Fahrertür seines Autos, stellte die Kiste sorgfältig auf dem Beifahrersitz ab und stieg ins Auto. Kurz darauf fuhr er los. Milan wartete noch einen Augenblick, dann eilte er zu seiner Vespa und folgte seinem Geschichtslehrer.
Im Ambassador
Das Ambassador war eines der exklusivsten Hotels in Kapstadt. Wie alles, das zu den teuersten Dingen der legislativen Hauptstadt gehörte, befand sich das Hotel am Meer. Das Gebäude war zehn Stockwerke hoch, jede Hotelsuite besaß einen Balkon, der mit Blumen und Kletterpflanzen bestückt war. Die meisten Zimmer boten einen Blick auf den stürmischen Atlantik. Es war ein großes sehr geschmackvolles Bauwerk von modernstem Design und aufgrund seiner Umweltfreundlichkeit stark beworben. Es entsprach den höchsten Standards. Für wohlhabende Geschäftsleute und durchreisende Politiker war es die Nummer-eins-Adresse am Kap. Hier konnte man sich nach einem anstrengenden Arbeitstag erholen. Das Ambassador hatte alles.
Vor diesem Hotel parkte Stein seinen alten VW – allerdings auf der Promenade gegenüber, ein kurzes Stück vom Hotel entfernt, wo Jogger und Walker gerne ihr Sportprogramm an der frischen Meeresluft absolvierten. Es war unwahrscheinlich, dass einer der Portiers am Eingang des Ambassadors je einen Gast mit einem Auto wie dem von Herrn Stein empfangen hatte. In der Tiefgarage des Hotels standen bestimmt keine alten Volkswagen Citis. Aber das war vermutlich nicht der einzige Grund, warum Herr Stein nicht direkt vor dem Hotel parkte.
Milan bog in den Parkplatz ein und ließ seine Vespa neben der Parkuhr auf dem grünen Mittelstreifen stehen. Er beobachtete, wie Stein aus seinem Auto ausstieg und die Straße zum Hotel überquerte. Jetzt trug er keine silberne Metallkiste mehr, sondern nur noch seine Ledertasche.
Milan überlegte, ob er nicht doch die Polizei rufen sollte. Ein bewaffneter Mann betritt gerade ein Luxushotel. Möglicherweise handelt es sich um den Apartheid-Killer. Es sieht so aus, als ob er gleich wieder zuschlagen wird. Aber bei dieser Vorstellung stieg ein seltsames Gefühl in Milan hoch: Er wollte Herrn Stein nicht denunzieren, er wollte ihn schützen.
Nachdem Stein im Ambassador verschwunden war, näherte sich auch Milan dem wellenförmigen Vordach des Eingangs. Beim Betreten des Hotels hatte der förmlich angezogene Portier Herrn Stein respektvoll zugenickt. Milan fragte sich, ob der Mann mit Zylinderhut und Frack, der auf dem roten Teppich auf und ab ging wie ein Soldat auf Wache, auch Milan durchlassen würde? Der Junge erblickte sein Spiegelbild im getönten Fenster des Foyers. Mit den weiten Jeans, der bunten Bikerjacke und dem bedruckten T-Shirt sah er nicht gerade wie ein typischer Hotelgast aus. Aber jetzt blieb ihm keine Zeit, sich um sein Äußeres zu kümmern. Er lief schneller und verdrängte seine Unsicherheit. Als er zielstrebig den roten Teppich betrat, blickte der Portier ihn misstrauisch an, doch Milan lief geradewegs an ihm vorbei.
»Tag!«, rief der Junge, ohne anzuhalten. Mit einer reflexartigen Bewegung tippte der Portier seinen Zylinder mit der Fingerspitze an und die Glasschiebetüren glitten lautlos auf.
Das Foyer des Hotels war riesengroß und prunkvoll. Auch hier war alles durchgestylt, von den luxuriösen Möbeln bis zum uniformierten Personal. Ein großer Empfangstresen in Form eines Halbkreises erstreckte sich auf der anderen Seite der Eingangshalle. Das Foyer war mit zahlreichen Kaffeetischen und schwarzen
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