Juwel meines Herzens
dem Tisch neben der Schlafpritsche stand und zwang sich, einen Schluck zu trinken. Als er ihre Kehle hinunterrann, stöhnte sie auf. Waylands Gesöff schmeckte noch schlimmer als es roch. Ihre Zunge brannte wie Feuer, und sie musste spucken. Trotzdem: Sie wollte unbedingt schlafen, und Wayland hatte ihr versprochen, dass der Trank dafür sorgen würde. Allerdings hätte sie in diesem Moment lieber von den abgestandenen Bierlachen getrunken, die sich regelmäßig unter den Zapfhähnen des »Quail and Queen« ansammelten.
Was war sie doch für eine Närrin gewesen, dass sie sich an Bord von Nolans Schiff geschlichen hatte. Oder sich in ihn verliebt hatte.
Und er … er hatte sein Versprechen nicht gehalten. Er war noch nicht erschienen. Obwohl sie das bei ihrer komplizierten Beziehung eigentlich nicht weiter überraschen sollte, hatte sie doch gehofft, dass er angesichts ihres Kummers sich auch jetzt noch um sie kümmern würde. Nie zuvor hatte er sich ihr mehr geöffnet als vorhin an Deck. Oder hatten ihre Sehnsucht und ihr Verlangen nach ihm nur ihr Urteil getrübt? Sie selber hatte sich ihm vollkommen offenbart, aber vielleicht hatte er sie mit seinen Worten nur beruhigen und sie dazu zu bewegen wollen, in die Kajüte zu gehen. Einmal mehr war sie wieder nur ein Problem gewesen, um das sich jemand anderes kümmern musste.
Sie hielt sich die Nase zu und zwang sich, einen weiteren großen Schluck Grog hinunterzuschlucken. Ihr Gesicht verzog sich unter Schmerzen, als sie versuchte, das ekelhafte Gebräu nicht wieder hervorzuwürgen. Da es ein Ding der Unmöglichkeit war, den Becher leer zu trinken, stellte sie ihn auf den Tisch zurück, blies die Laterne aus, streckte sich auf dem Bett aus und hoffte, dass das, was sie gerade eben hinuntergezwungen hatte, genügen würde, um sie schläfrig zu machen. Ihr Blick war starr in die Dunkelheit gerichtet.
Der Regen prasselte unablässig auf das Deck. Gelegentlich konnte sie die Schritte der Männer hören, aber meistens war es nur der Regen, der die Stille durchbrach. Aus Angst, ihn zu sehen, wagte sie nicht, ihre Augen zu schließen. Ihn: ihren ermordeten Gegner. Er war nur ein Junge gewesen. Wie hatte sie Harvey jemals darum bitten können, ihr den Umgang mit dem Schwert beizubringen? Und warum war ihr Vater überhaupt jemals in ihr Leben getreten und hatte sie darin bestärkt, es zu lernen? Im Vergleich zu ihrer momentanen Situation war ihr Leben im »Quail and Queen« geradezu idyllisch gewesen. In diesem Augenblick hätte sie alles darum gegeben, zu Hause, in ihrem eigenen Bett, zu sein.
Jewel warf sich von einer Seite auf die andere. Alles schien verloren. Sogar ihr Wunsch, an das Gute – zumindest an etwas Gutes – in Bellamy Leggett zu glauben, war geplatzt. Auch er hatte bestimmt getötet. Und das nicht nur ein Mal. Sicher hatten die Schiffe, die er angriff, nicht kampflos aufgegeben. Warum war ihr die Schändlichkeit eines solchen Lebens nie zuvor bewusst gewesen?
Die Tür zu ihrer Kajüte knarrte leise, dann drehte sich langsam der Knauf. Abrupt setzte sich Jewel auf und klammerte sich an ihr Laken, das sie bis zum Kinn hochgezogen hatte. Selbst im Dunkeln erkannte sie gleich den großen, breitschultrigen Schatten, der zu ihr hineinschlich. Leise schloss er die Tür und lehnte sich dann dagegen.
»Nolan«, flüsterte sie.
Er zögerte. »Ich dachte, du würdest vielleicht schon schlafen.«
Sie schüttelte den Kopf. In ihren Augen begann es zu brennen, aber sie hatte all ihre Tränen bereits vergossen. »Ich konnte nicht …« Sie hielt inne. Der Schrecken, der sich ihrer bemächtigt hatte, war ohnehin nicht in Worte zu fassen. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten.
Als er sich zu ihr aufs Bett setzte, zog sein Gewicht das Laken nach unten, und Jewel sank in seine Arme. »Ist ja gut, ich bin jetzt hier«, sagte er. Sein Mitgefühl schien echt zu sein, denn seine Hand begann, über ihren Rücken zu streicheln, und er zog sie an sich.
Jewel wollte ihre Arme um ihn legen, doch als er in diesem Moment hörbar die Luft einsog, ließ sie von dem Vorhaben ab. Sie versuchte, sich ihm zu entziehen, um sich seine Wunde anzusehen, aber er hielt sie fest. »Dein Arm. Lass mich ihn ansehen«, sagte sie.
Seine Hände bewegten sich noch immer in beruhigenden Kreisen auf ihrem Rücken und löschten alles bis auf ihr Verlangen aus, sich noch enger an ihn zu schmiegen. »Man hat sich darum gekümmert. Es ist alles in Ordnung.«
Sie stützte sich mit den Händen an
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