K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
Bibliothek, eher wie ein Verleger einem großen Dichter begegnen würde, dessen Buch er veröffentlichen wird.
Jacobo ist noch jung, etwas über dreißig, mit dichtem blonden Haar. Sein ernstes Gesicht ist von einer aufgesetzten Freude überzogen. Er sieht eher wie ein Sportler aus, der zu einem Tennisturnier geht, als wie ein Verleger auf Geschäftsreise.
Sie begrüßen sich im Stehen, am Tresen des Cafés; anschließend ziehen sie sich in einen der abgetrennten Räume der Bibliothek zurück und reden offen, wenn auch mit gedämpfter Stimme. Mal sprechen sie jiddisch, mal portugiesisch.
Drei Stunden lang wird K. von Jacobo ausgefragt; er will über alles Bescheid wissen. Über das politische Engagement seiner Tochter, ihres Mannes, über Leute mit denen er, K., bereits gesprochen hat. Über alles. Er kommt immer wieder auf Zeiten und Orte zurück. Vor allem auf Daten. Er sagt, das Datum des Verschwindens sei der Ausgangspunkt, um zu bestimmen, mit wem man Kontakt aufnimmt und wie man herausfindet, was passiert ist. Er insistiert vor allem hinsichtlich der Kontakte, die K. mit Behörden, Regierungsmitgliedern, Rechtsanwälten und Mitarbeitern des Erzbistums hergestellt hat. Man habe es, sagt er, mit einem ganz besonderen Mechanismus zu tun, der das spurlose Verschwinden von Menschen bewirke.
Obwohl es nicht schwer ist, eine Leiche verschwinden zu lassen, sagt Jacobo – in Argentinien zum Beispiel wurden sie fern von der Küste aus einem Flugzeug ins Meer geworfen –, gibt es doch immer einen Zeugen, einen Flugzeugpiloten, einen Untergebenen, der die Leichen beseitigt hat … Nun bemerkt er die Hoffnungslosigkeit im Blick von K. und ändert seinen Ton: seine Leute hatten den geheimen Aufenthaltsort von fast hundert verhafteten Juden und einigen Nichtjuden herausgefunden, die alle als vermisst galten. Sie hatten für sie Geleitbriefe mit Einreisevisa nach Israel besorgt, wo einige von ihnen sich niederließen. Andere setzten die Reise nach Europa und in die Vereinigten Staaten fort. Vielleicht kann er eine ähnliche Lösung für die Tochter und ihren Mann finden?
Nicht verzweifeln, sagt er zu K., noch gibt es Hoffnung. Im Falle von Argentinien hat es tausende Verschwundene gegeben – bemerkt er –, vielleicht mehr als zehntausend, und sie entführen immer noch Menschen und lassen sie verschwinden. Dann plötzlich wird jemand, der bereits als tot gilt, wie durch ein Wunder gefunden. Er hatte sehr viel Erfahrung mit solchen Fällen gesammelt und versprach, sie vorbehaltlos bei der Suche nach der Tochter einzusetzen. Die Leute seien tief berührt von der Geschichte des alten jiddischen Schriftstellers und Dichters, dessen Leben plötzlich durch das, was man seiner Tochter angetan hatte, zerstört war. Schließlich verabschiedet er sich. Er verspricht, K. auf dem Laufenden zu halten; er solle nicht verzweifeln.
IV
Zwei Monate sind ins Land gegangen – ohne ein Zeichen von Jacobo. Ende Oktober erhält K. einen Anruf von einem gewissen Carlos, der die Vorbereitung des nächsten Gedichtbands erwähnt. Es war die Losung. Er spricht mit einem starken argentinischen Akzent, wie Jacobo. Sie müssten sich über das Buch unterhalten, sagt Carlos.
Sie treffen sich in demselben Nebenraum der Hebräischen Bibliothek. Carlos wartete bereits auf K., der sich ein Taxi genommen hatte, keines vom Taxistand an der Bäckerei neben seinem Laden, sondern eines, das er auf der Straße herangewinkt hatte. Aus Vorsicht stieg er nicht an der Tür der Hebräischen Bibliothek aus, sondern schon früher, vor einem Wohnhaus.
Carlos erklärt K., dass sie trotz aller Anstrengungen an keine verlässlichen Informationen über seine Tochter herangekommen seien. Als wäre um sie und ihren Mann eine unüberwindliche geheime Mauer errichtet worden. Bei zwei Gelegenheiten – sagt er – gab man zu, sie sei verhaftet worden, aber kurz danach, beim nächsten Mal, hieß es, es sei ein Irrtum gewesen. Über ihren Ehemann lag nicht einmal diese Aussage vor. Er wollte von K. wissen, ob es von seiner Seite etwas Neues gab, irgendeine neue Information.
K. verneint. Absolut nichts. Völlig niedergeschlagen, hört er schon gar nicht mehr richtig zu, was dieser Carlos sagt. Er fühlt sich unglaublich müde, erneut diese innere Leere, die ihn schon so oft ereilt hat, die sogar verhindert, dass er sich vom Stuhl erhebt. Jacobo fällt ihm ein, der so viel Energie und Optimismus ausgestrahlt und ein Fünkchen Hoffnung bei ihm geweckt hatte.
»Und wie geht es
Weitere Kostenlose Bücher