K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
die Schuld in die Schuhe geschoben, das Futter, das wir dem Kleinen gegeben hätten, sei schlecht gewesen, er ließ sogar dieses teure Hundefutter besorgen, für dreißig Kröten das Kilo, teurer als Filet Mignon; am Schlimmsten hat er sich gestern aufgeführt, als ich sagte, wir sollten den Hund abschaffen, er hat mich zur Schnecke gemacht, ich sei ein Unmensch, ein Feigling, wer einen Hund misshandelt, ist feige; am liebsten hätte ich ihn gefragt: Und wer diese armen Studenten, die schon im Gefängnis sitzen, die Vater und Mutter haben, umbringt, ihren Körper dann auch noch vierteilt und die Körperteile vernichtet, kein Fitzelchen zurücklässt, was ist der? Gut, dass ich das Maul gehalten habe. Ich weiß nicht, welche Laus mich gebissen hatte. Es ist diese verdammte Nervensäge von Hund, der mir keine Sekunde Ruhe gönnt, der Chef lässt sich ja hier nur blicken, wenn ein neuer Gefangener reinkommt. Frischfleisch – sagt er –, presst das Geständnis, das er haben will, aus ihm heraus, erteilt uns den Befehl, mit ihm Schluss zu machen, und geht. Aber wir sind die ganze Zeit über hier, ständig dieses Gejaule, das einen fertig macht, aber ich hab schon die Lösung: Ich gebe ihm höchstens noch zwei Tage, wenn er dann nicht von allein verreckt, kriegt er ’ne Portion von dem Gift, das wir diesem ehemaligen Abgeordneten verabreicht haben.
Der Tag, an dem die Erde stillstand
K. klammert sich am Radio fest, andere warten vor dem Fernseher, eine Menschengruppe hat sich vor dem Großbildschirm gebildet, auf dem die Zeitungsnachrichten des Estad ã o zu lesen sind; Mütter, Schwestern, Frauen in voller Erwartung. Sie harren des Augenblicks mit der Vorfreude derer, die den Sternenhimmel beobachten, mit gezücktem Fernglas auf die einzige Sternenfinsternis des Jahrhunderts warten. Nun dürfen sie Hoffnung schöpfen. Der Staatspräsident hatte angekündigt, dass an diesem Tag um zwölf Uhr mittags der Justizminister Armando Falcão den Aufenthaltsort der Verschwundenen bekannt geben würde.
Als der Moment der Bekanntmachung näher rückt, ist es, als ob die Sonne plötzlich am Himmel stehen bliebe; die Luft regt sich nicht mehr; die Welt scheint den Atem anzuhalten. Ein Tabu wird gebrochen. Die Regierung wird Auskunft geben über die Verschwundenen; deshalb erblüht die Hoffnung in neuem Glanz. Es sind bereits sechs Monate vergangen, seit der Kardinal und Erzbischof von São Paulo die Liste mit den Namen von 22 Verschwundenen herausgegeben hat. Die Zeitungen haben die Nachricht, wenn auch diskret, aufgegriffen und sind das Risiko eingegangen, die unberechenbare Zensurbehörde zu verärgern.
Das ist der Stand der Dinge. Um Punkt zwölf Uhr beginnt die Übertragung. Nach und nach werden Namen in alphabetischer Reihenfolge genannt. K.s Hoffnung schwindet. Der Name seiner Tochter, der dieser Logik zufolge unter den ersten hätte sein müssen, ist nicht dabei. Andere, die der Mitteilung aufmerksam folgen, überfällt Sprachlosigkeit. Einer ist auf der Flucht, ein anderer ist nie verhaftet worden, wieder ein anderer ist auch geflüchtet. XY ist wieder auf freiem Fuß, nachdem er seine Strafe abgesessen hat.
Plötzlich fällt der Name eines angesehenen Wirtschaftsprofessors, der nie verschwunden ist, der immer noch unter seiner alten Adresse wohnt und sich an denselben Orten aufhält, wo er sich immer aufgehalten hat, wenn er auch von der Universität vertrieben wurde, gefolgt von der arglistigen Behauptung, er sei verschwunden. Und dann noch einer, der genauso verhöhnt wird. An Stelle von 22 Aufklärungen 27 Lügen. Plötzlich, am
Ende, ein Hinweis auf K.s Tochter. Über sie sowie ihren Mann und zwei andere, lautet die Mitteilung, ist den Regierungsstellen nichts bekannt.
Die Militärs haben das Versprechen des Regierungschefs eingelöst in Anlehnung an die Logik der Bekämpfung gegnerischer Kräfte durch psychische Gewaltanwendung. In dieser Art von Kriegsführung gilt die Verblendung des Feindes als legitimes Mittel; es entspricht der Vernebelungstaktik in einem konventionellen Krieg. Diejenigen, die einen humanitären Ausgang für die Opfer eines bereits gewonnenen Krieges erhofft hatten, haben sich getäuscht. Im Gegenteil, die falsche Namensliste hat sich als zielsichere Waffe einer neuen Strategie der psychischen Folter erwiesen. Es wäre besser gewesen, sie hätten ihr Schweigen gewahrt, geht es K. durch den Kopf.
Die Liste ist zu Ende, die Sondermitteilung des Justizministers abgeschlossen. Einige Sekunden
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