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Titel: K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T McCarthy
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und flutet, überflutet. Sie hätten längst schießen können; Serge könnte schon tot sein, das Bewusstsein gehalten von einer Art Pause, die sich durch die komplexe Physik des Ganzen ergibt, vielleicht auch in der Schwebe gehalten durch einen Looping der Zeit. Jetzt gilt es nur noch zu warten, bis ihr Rand wieder auftaucht und zurück in sein Blickfeld gleitet; dann wird dieses Ineinandergleiten ihn auflesen und in den weichen Ausbuchtungen der Zeit verschwinden lassen. Erst als er eine Unruhe unter den Soldaten wahrnimmt, begreift er, dass es einen Grund für diese Pause gibt: Ein Mann, ein Feldwebel, ein Hauptmann oder sonst ein Offizier, ist aufgetaucht und hat den
ersten Feldwebel zu sich gerufen. Sie reden miteinander. Sie reden eine ganze Weile – und während sie reden, scheint die Zeit wieder die alte Gestalt anzunehmen, ihre Ausbuchtungen lösen sich auf. Kein angenehmes Gefühl. Jetzt redet der Feldwebel zum Erschießungskommando: Er murmelt etwas, und die Soldaten lassen die Gewehre sinken.
    »Was ist passiert?«, fragt Serge ungehalten.
    Der Offizier antwortet ihm: »Schluss, aus, Ende. Es ist vorbei …« Er geht.
    »Was soll das heißen, es ist vorbei?«, ruft Serge ihm nach. »Es hat doch noch nicht mal angefangen.«
    »Der Krieg ist vorbei«, ruft der Offizier über die Schulter zurück.
    Hodge fällt auf die Knie und beginnt zu weinen. Nun gehen auch die Soldaten weg, ziehen sich zurück. Über die Lichtung geblendet sieht Serge ein Bild, als wäre es dorthin projiziert, ein Bild von einem Boot, das an einer Stelle, wo mehrere Kanäle aufeinandertreffen, von einem Steg ablegt, und während das Boot davonfährt, nimmt es die Kreuzung mit sich, lässt ihn zurück. Zum ersten Mal während des ganzen Krieges hat er Angst.
    »He!«, ruft er den Soldaten hinterher. »Das könnt ihr doch nicht machen. Wartet!«

DREI
K ollision

10
    I
    Versoie wirkt kleiner. Die Proportionen sind dieselben: Die Fläche der Mauer am Haus, gemessen an der des Labyrinthgartens, über dem sie aufragt; die Breite der Fliesenwege im Labyrinth im Verhältnis zum Rasen; die Höhe der obeliskgekrönten Säulen und die Sicht aus dem Mansardenfenster über sie hinweg in den Park selbst – all das stimmt, doch im Ganzen gesehen, scheint es geschrumpft zu sein. Der von der Hauseingangstür nach links abbiegende Weg zum unteren Rasen, weiter durch den Lindengarten mit seinen Bienenkörben, vorbei am grünen, schlickbedeckten Teich zur von Kastanienbäumen gesäumten Allee, die an der Apfelwiese entlang zu den Spinnereihäusern und zu Bodners Garten führt – ein Weg, bei dem früher einmal jeder Abschnitt einer unfassbar weiten Welt glich, voll mit organischer Masse und Dichte und den Möglichkeiten dessen, was dort geschehen könnte, und je nach Vorlieben eingeteilt in Enklaven, von denen jede wiederum eine Welt in der Welt bedeutete, und dies bis in alle Unendlichkeit fortgesetzt –, scheint jetzt nur noch ein kleiner, unbedeutender Rundgang zu sein: eine Empfängerschleife oder altbekannte Route rund um einen vertrauten Paradeplatz. Es ist, als hätte man mit einem Trick das gesamte Anwesen in Serges Abwesenheit durch ein Modell ersetzt, eines, in das er nun hineingezwängt wurde, übergroß, unbeholfen und plump …
    Versoie wirkt kleiner, und die Welt wirkt kleiner, wirkt wie ein Modell der Welt. Nicht nur die Entfernungen sind
geschrumpft, etwa von hier nach Lydium (diese zudem fast exponentiell dank des Automobils, das sein Vater gekauft hat und ihn fahren lässt, wann immer ihm der Sinn nach einem Ausflug steht), sondern auch das Inventar potenzieller Erfahrungen selbst – Situationen, in die er geraten, Unterhaltungen und Handlungen, auf die er sich einlassen könnte – ist so sehr geschrumpft, dass sie sich auf einem einzigen Blatt Papier auflisten lassen. Die Gespräche, die er in der Post oder in den Geschäften führt, wie auch die dazu nötigen Bewegungen und Gesten scheinen so begrenzt, so vorgegeben, dass sie wie festgelegt wirken – als wären sie längst geschehen und würden nur noch einmal aufgeführt von zwei Leuten oder mehreren, die übereingekommen sind, den lächerlichen Eindruck zu wahren, dass dies etwas wirklich Neues und Aufregendes sei. Er hat es sich angewöhnt, solche Scharaden mittendrin abzubrechen, etwa in den Käseladen zu gehen, auf die üblichen Fragen nach dem Befinden seiner Eltern oder der Tagesschüler zu antworten, der Ansicht beizupflichten, wie nett es doch sei, wieder daheim zu

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