Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
K

K

Titel: K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T McCarthy
Vom Netzwerk:
empfangen, jeden Vokal und jede Silbe, die gesprochen wurden, damals am Kreuz …«
    Der Satz verklingt mit einem Zischlaut. Serge schielt noch einmal auf die Nadel: Sie zeigt jetzt über vierzig an und schlägt fast ganz nach rechts aus. Er sieht wieder auf, lässt den Blick durch den Krypta-Park wandern und meint, über Gras und Bäumen eine elektrische Aufladung wahrzunehmen, eine Strahlung, in deren Grenzbereichen er aus irgendeinem Grund die Schreie all der von ihm getöteten Männer widerhallen zu hören glaubt – alle, auf die er sein Geschütz gerichtet, die er beharkt, auf Photos festgehalten und nicht gegen Haibisse geschützt hat, die er in ihrem sanften Niedersinken abfing und in die Erde rammte. Einen Moment lang schließt er die Augen und sieht jenseits der elektrischen Ladung ein Fräulein vom Amt, sieht sie an einer Schalttafel sitzen, die einer Art fremdländischem Webstuhl gleicht.
    Das Gesicht dieser geisterhaften Telephonvermittlerin spiegelt sich in den Gesichtern der Tagesschüler wider. Seit Serge in den Krieg zog, haben sie sich verändert – sind älter geworden, fremde Schüler sind nachgerückt –, doch wirken sogar die neuen eigenartig vertraut. Und das gilt für beide Seiten: Ein Hauch von Verstehen scheint bei seinem Anblick über ihre Gesichter zu huschen, als wären sie irgendwie in das eingeweiht, was in Frankreich und Deutschland geschah, könnten es in den Grenzen ihrer Taubheit widerhallen hören. Bodner auch: Seine umfassende Gleichgültigkeit gegenüber nahezu allem um ihn herum scheint ein wortloses Verstehen und Akzeptieren dessen auszudrücken, was Serge durchgemacht haben könnte, als hätte er selbst es erlebt. Vielleicht kommt das daher, weil Bodner – anders als die Ladenbesitzer, als Dr. Learmont oder auch jeder Einzelne im Strom der Besucher, die in Versoie vorbeischauen – von Serge nicht verlangt, ihm seine Abenteuer zu erzählen oder zu resümieren. Wie eh
und je kaut er auf seinem Zungenstummel, schiebt Karren von einem Garten in den anderen oder setzt Tee für Mutter auf, genau wie früher…
    Seine Mutter ist alt geworden. Sie wirkt verbraucht wie eine Seidenraupe, die alles gegeben hat. Ihre Augen liegen tief in den Höhlen; die Haut zieht sich über ihren Gesichtsknochen zusammen. Obwohl sie keine Arbeit mehr beaufsichtigen muss, bringt sie noch viel Zeit im Lagerraum zu, listet den schmalen Restbestand an Seide auf, malt neue Muster, die man weben könnte, wenn die Bäume sich erholen, oder sitzt an ihrem niedrigen Tisch und starrt ins Leere. Nachmittags geht Serge oft zu ihr: Sie trinken gemeinsam Tee. Ist das Wetter schön, gehen sie in einen der Gärten und sitzen stumm da, lassen sich nicht stören von den Bienen und Fliegen, die sie umtanzen, auf ihnen landen, von ihnen abheben und aufs Neue ganz unbekümmert landen, wohl wissend, dass man nicht nach ihnen schlagen wird.
    II
    Serges Londoner Wohnung liegt in der Rugby Street in Bloomsbury, gleich über einem Milchgeschäft im ersten Stock. Jeden Morgen weckt ihn das Geklirr der Glasflaschen, das von Männerstimmen untermalte Klappern der Hufe, Geräusche, die durch seine Träume an die Oberfläche treiben wie die Tentakel eines urzeitlichen Kraken. Frühstück, honigsüße Blätterteigbaklava, isst er um die Ecke in einem türkischen Cafe in der Lamb’s Conduit Street. Kranke Kinder vom Great Ormond Hospital werden wie die Krüppel in Klodĕbrady zu einer Spazierfahrt in Rollstühlen vorbeigeschoben. Manchmal halten Eltern oder Krankenschwestern an, um Gebäck zu kaufen, doch scheint es den Kindern nie sonderlich zu
schmecken. Ihre Gesichter sehen wie die alter Menschen aus: desillusioniert, traurig, schicksalsergeben. Sünden der Väter, denkt Serge jedes Mal, wenn er sie vorüberziehen sieht. Walnusskrümel aus einer Zahnlücke saugend, schlendert er im Russell Square Gardens an den Fontänen vorbei und sinniert über die Gesetzmäßigkeit ihrer Spritzabstände (eine Aufgabe, die ihn unterwegs völlig gefangen nimmt, die er aber sofort wieder vergisst, wenn er den Park verlässt), um dann der rückwärtigen, von steinernen Löwen bewachten Mauer des British Museum zu folgen und schließlich (stets gegen den Uhrzeigersinn) am Zaungeländer entlang um den geschlossenen Garten auf dem Bedford Square zu gehen, bis dessen weit gezogene Ellipse ihn nur wenige Schritte vor dem Eingang der Architectural Association entlässt.
    Die Vormittage vergehen mit Vorlesungen. Theodore Lyle, Mitglied des Königlich

Weitere Kostenlose Bücher