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Titel: K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T McCarthy
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Serge am Ärmel und zieht ihn hinter sich her in die Toilette. Drinnen gibt es einen vorgelagerten Waschraum (pronaos, denkt er, müsste der entsprechende Fachausdruck sein) und, davon durch eine Kabinenwand getrennt, die eigentliche Toilette (cella).
Sie fischt eine Puderdose aus ihrer Rocktasche, gibt sie Serge und sagt: »Nur zu. Ich muss erst mal pinkeln.«
    Mit diesen Worten verschwindet sie in der Kabine. Behutsam öffnet Serge die Dose, schüttet ein Häuflein ihres weißen Pulvers auf den Tisch neben dem Spülbecken und teilt es in zwei Reihen. Von der Toilette dringt ein Plätschern herüber, das sich zu einem stetigen, gemächlichen Rauschen steigert.
    »Was machen Sie?«, ruft sie über die Kabinentür hinweg.
    »Ich studiere Architektur«, ruft er zurück, während er einen Geldschein aus der Brieftasche nimmt und zu einem Röhrchen zusammenrollt. »Und Sie?«
    »Theater.«
    »Sie studieren Theater?«
    »Studieren? Nein, warum sollte ich?«
    »Weiß nicht. Offenbar kann man heutzutage einfach alles studieren.«
    »Tja, ich sitz jedenfalls nicht in Hörsälen rum. Höchstens in der Garderobe …«
    »In der Garderobe?«
    »Ich bin Schauspielerin.«
    Die Kaskade verebbt zu einem Tröpfeln und versiegt. Es folgt ein Rascheln, Stoff, der hochgezogen wird, dann ist die Spülung zu hören, und gleich darauf steht die junge Frau wieder draußen und betrachtet die zwei Pulverreihen, die er gezogen hat. Er gibt ihr den Geldschein.
    »Nach Ihnen.«
    Sie nimmt den Schein, streicht sich das Haar aus dem Gesicht, beugt sich über den Tisch und schnieft das Kokain. Dann wirft sie den Kopf in den Nacken, reckt ihm den Hals entgegen und gibt das Geld zurück. Nachdem er seine Line geschnieft hat, starren sie sich, rot im Gesicht, einige Sekunden lang schweigend an.
    »Tja« sagt sie.

    »Tja«, wiederholt er und sagt nach einer weiteren Pause: »Ich muss auch mal.«
    »Trinken Sie doch nachher noch eine Tasse Kaffee mit mir«, sagt sie und geht zurück auf den Flur.
    Das tut er. Sie heißt Audrey und ist fast genauso alt wie er, 1898 geboren. Zurzeit hat sie »einen Auftritt«, wie sie sich ausdrückt, in Die Amazonier, einer musikalischen Komödie.
    »Wir spielen im Empire«, sagt sie, »hier gleich um die Ecke. Ich könnte Ihnen eine Karte besorgen, wenn Sie sich das Stück ansehen wollen.«
    Serge nimmt ihr Angebot an. Am nächsten Abend meldet er sich am Kartenschalter des Theaters und bekommt einen Umschlag ausgehändigt, auf den jemand, vermutlich Audrey, seinen Namen geschrieben hat, allerdings falsch, nämlich so, wie ihn sein Vater ausspricht: Sörsche. Er öffnet den Umschlag, entnimmt ihm ein Ticket für die Galerie, zweiter Rang, kauft sich bei einer jungen, livrierten Frau ein Programmheft und geht an seinen Platz. Das Theater ist ziemlich voll. Die meisten Leute scheinen zu zweit oder zu dritt gekommen zu sein, darunter das eine oder andere konventionelle Mann-Frau-Paar, doch deutlich mehr Paare und Gruppen von Frauen ohne Männerbegleitung. Sie unterhalten sich laut, rauchen, lachen und verbreiten eine maskuline Atmosphäre. Serge blättert das Programmheft durch. Auf der Innenseite des Deckblatts ist eine Reklame für Good Printing, die behauptet, das Haus von Henry Good und Söhne sei für kommerziellen Satz, Lithographie und Kassenbücher die beste Adresse in ganz London. Serge fragt sich, ob der Name echt ist und ob Vater und Sohn überhaupt existieren. Karrefax Kathode – sein Vater hat diesen Plan nie wieder erwähnt. Vielleicht hat Henry auch ein Kind im Krieg verloren. Serge denkt an Tinte und Schreibmaschinenbänder, an schwimmende Satzkästen. Auf der nächsten Seite werden die Namen des Ensembles aufgelistet:
Serges Blick wandert über die Reihe, überfliegt Hauptdarsteller, Nebenrollen und wandert weiter zum Chor. Als er dort, in der kleinsten Schrift, Audreys Namen entdeckt, fühlt er zärtliche Gefühle in sich aufsteigen und ist von ihrer Einladung stärker gerührt, als er es wohl gewesen wäre, wenn sie zu den Stars der Show gehört hätte.
    Die nächste Seite enthält »historische Anmerkungen« zum Stück: »Weit davon entfernt, bloß mythologische Geschöpfe zu sein«, heißt es, »ist historisch erwiesen, dass es die Amazonen tatsächlich gegeben hat. Sie lebten in Skythien und wurden in der gesamten antiken Welt wegen ihres wilden, kriegerischen Gemütes verehrt. Zwar verboten ihre Gesetze nicht nur die Ehe, sondern auch sonst jegliche Form der Zusammenkunft mit Männern, doch

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