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Türken, Angehörige jeglicher Nationalität schieben sich im verqualmten Glanz der Petroleumlampen über den Platz, tauschen undefinierbare Bündel neuwertiger Produkte, Stoffe, Elektrogeräte und feilschen in mehr als einem Dutzend Sprachen.
»Wir könnten hier auch in Smyrna sein«, sagt Serge, woraufhin die Mädchen im Taxi prompt wie aus einem Munde singen:
Denn die Smyrna-Myrina
Bezaubert schon ganz China …
Gewühl und Licht nehmen ab, je weiter sich ihre Kolonne über die Cable Street bewegt, von der menschenleere Straßen nach Shadwell und Stepney abzweigen. Hinter dem Limehouse Canal gibt es dann überhaupt keine Straßenlampen mehr, nur noch Mondlicht, das sich im brackigen Wasser spiegelt und ihren Weg durch die Nacht erhellt. Das vorausfahrende Taxi hält, biegt dann in die engste Gasse und bleibt vor einem Lagerhaus stehen, vor dessen schmaler Seitentür sich eine gelbe Lichtpfütze sammelt. Auch die anderen Taxis bleiben stehen. Serge steigt aus und schiebt sich mit den Amazonen durch die Tür, an der sie – was sie ein wenig konsterniert
– je um ein Pfund erleichtert werden, ehe man sie über einen staubigen Flur und eine baufällige Treppe zu einem großen Portal führt, hinter dem vertraute Jazzklänge vorquellen. Gleich darauf betreten sie einen großen Fabrikraum, eine Lager- oder Montagehalle, die wie für eines Kaisers Opiumtraum oder einen exotischen Film in eine bizarre Kulisse verwandelt wurde. Mit prallen Traubenbüscheln behängter Wein umrankt Stützpfeiler, als wären es die Säulen eines bacchanalischen Tempels. Mächtige Haken an den Wänden ringsum sind ähnlich verziert, ebenso die Kranbrücken, die sich über die Decke spannen. Auf einer Bühne, die um einiges höher ist als die im 52, spielt eine vielköpfige Jazzband zwischen wuchtigen Maschinen ein irrwitzig schnelles Stück, als wären sie besessen von der Gottheit, die das ausgefallene Dekor herbeibeschwört. Und wie der Allmächtige höchstselbst steht Billie Lee auf einem Laufsteg hoch über der Menge in einem prächtigen blauen, mit edlem Pelzkragen verzierten Mantel.
»Ausnahmsweise hätten wir uns offenbar ruhig noch ein wenig mehr auftakeln dürfen«, ruft Audrey den Mädchen zu.
Es stimmt: Die meisten Frauen tragen Nachmittagskleider aus spitzenbesetztem Chiffon oder Crêpe de Chine; und wie manche Gäste in Madame Zs Salon scheinen sich die meisten Männer für eine Pyjamaparty angezogen zu haben. Lorbeerkränze tragende Kellner gleiten mit Champagnertabletts vorbei. Serge, Audrey und die Amazonen genehmigen sich ein paar Gläser; dann springen die Mädchen davon und mischen sich unter die Menge auf der Tanzfläche vor der Bühne.
»Dr. Arbus ist hier«, hört er eine von ihnen zu Audrey im Davonhuschen sagen.
Serge schaut sich um, neugierig, wer von den Nachtschwärmern wohl Audreys Beschützer ist. Auf der Tanzfläche sind fast nur Frauen. Unter den Gliedmaßen und Gesichtern kann
er amazonische Segmente ausmachen: Das Wogen und Beben nackter Schultern, Hände, die Schminkdöschen aus Handtaschen ziehen (die Mädchen schniefen ihr Kokain so geschickt, dass sie dafür im Tanz nicht innezuhalten brauchen). Serge hat seine eigene Medizin, die er sich noch am Nachmittag, an einem H-Tag, vom Kunstwerke ausstellenden Antiquitätenhändler besorgt hat. Er verzieht sich in einen kleinen Raum, offenbar eine Generatorkammer, und frischt seine Dosis auf. Als er wieder in die Halle tritt, bewegen sich die Tänzer wie die Schauspieler in jenem Film, den er vor etwa einer Woche mit Audrey gesehen hat und den der Filmvorführer, ein Neuling, mit falscher Geschwindigkeit laufen ließ: Die frenetischen Wirbel und Zuckungen sind in langsame Bewegungen übergegangen, die in einem trägen, fast statisch wirkenden Tempo miteinander verschmelzen. Röcke nähern und entfernen sich wie Wolken, die sich im Laufe eines langen Nachmittags überlappen und wieder voneinander lösen; Blickkontakt zwischen Partnern baut sich so langsam auf wie ein Ferngespräch und wird nur unwillig, zögerlich wieder beendet; Rauchwölkchen, die über Zigarettenspitzen aufsteigen, verdichten sich und winden sich gleich zart Geklöppeltem um Glieder und Kleider. So gesehen wirkt das Fest fast melancholisch und nicht wie eine rauschende Feier. Selbst zwei Frauen, die sich leidenschaftlich küssen, scheinen dem Bann träger Verzweiflung verfallen. Ihre Münder kleben aneinander, als versuchten sie, Sauerstoff aus fremden Lungen zu saugen; eine Hand greift
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