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Titel: K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T McCarthy
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Männer seines Alters mit einer »Kriegsneurose« durch die Gegend laufen. Entsprechende Symptome sieht er in London überall: Der stumpfe, leere Blick und der langsame, roboterhafte Gang; beides war typisch für die vorläufig als nervös eingestuften Männer im Feldlazarett in Mirabel oder jene Piloten und Beobachter, für die Walpond-Skinner das Formular AAF-3436 ausfüllen musste – und doch sind diese Symptome weit verbreitet. Billie Lee hat sie, dabei hat er während der Kriegsjahre den Familienbetrieb in Shanghai geführt. Madame Z hat sie, und sie leitet seit Menschengedenken ihre
Salons. Pendler, die jeden Morgen zur Arbeit fahren, legen sie an den Tag, genauso wie die Vergnügungslustigen, die sich im West End herumtreiben. Sie können unmöglich alle an der Front gewesen sein. Die Kinder in der Great Ormond Street haben sie, und besonders ausgeprägt sind sie bei den Haschern; auch die Kokain-Schniefer zeigen vergleichbare Symptome, wenn sie nicht gerade auf einem Trip sind, der sie Minuten später leerer und lethargischer als je zuvor zurücklässt. London ist wie eine Stadt der lebenden Toten, und nur wenige können zu ihrer Entschuldigung vorbringen, dass endlos Granaten auf sie herabgeregnet sind, die ihnen Knochen und Nerven durcheinandergeschüttelt haben. Nein, die Ursache für die Neurose existiert schon länger, ist älter, liegt tiefer, sitzt fester…
    Serge beschließt, Mr Clair aufzusuchen, der für die Gesellschaft der Fabier arbeitet. Er besucht ihn in seiner Wohnung in Islington.
    »Ist nichts Besonderes«, erzählt ihm Clair. »Ich wohne hier erst seit einem Jahr oder so.«
    Clair sieht älter aus, dünner, mitgenommener, und Serge gewinnt den Eindruck, als sprudle der Ärger auf den Zustand der Gesellschaft, der seine Worte noch würzte, als er sein und Sophies Lehrer in Versoie gewesen war, nicht mehr aus dem abstrakten, intellektuellen Quell rechtschaffenen, jugendlichen Rebellentums, sondern sei ihm von außen aufgezwängt, ja fast körperlich eingeätzt worden und habe ihn verbittert gemacht.
    »Wo sind Sie denn vorher gewesen?«, fragt Serge.
    »Auf einem Bauernhof in Yorkshire. Mir blieb keine Wahl, als Kriegsdienstverweigerer hat man mich gezwungen, Land zu beackern, weil ich keines erobern wollte.«
    »›Das Reich zu mehren‹«, sagt Serge und lächelt.
    Falls Clair die Anspielung versteht, lässt er es sich nicht anmerken.

    »Einige von uns hat man sogar ins Gefängnis geworfen. Aber wir haben Veränderungen bewirkt. Künftig wird niemand mehr …«
    »Wo ist das mit dem Bootsanleger?«, fragt Serge. Während Clair redete, hat er sich die Bilder an den Wänden angesehen.
    »Wie bitte?«
    »Als Sie bei uns gewohnt haben, hatten Sie ein Bild, auf dem ein Boot von einem Steg ablegte. Zwei Kanäle kreuzten sich, und ein Boot legte ab. Sie sagten, Sie hätten es selbst gemalt.«
    »Früher habe ich viel gemalt«, antwortet Clair.
    »Wissen Sie noch, wie Sie Sophie und mir Kunstunterricht erteilt haben?«, fragt Serge.
    »Sicher«, antwortet Clair. »Sie hat immer Pflanzen oder Insekten gemalt, du nur Karten.«
    »Genau«, erwidert Serge. »Sie haben versucht, uns räumliche Tiefe beizubringen.«
    »Offenbar nicht sonderlich erfolgreich«, murmelt Clair bekümmert.
    »Können Sie sich noch daran erinnern, was Sie uns gesagt haben? Ich meine, wie man das macht…?«
    Clair überlegt eine Weile und sagt dann: »Vermutlich habe ich euch die Grundsätze der Ein- und Zwei-Fluchtpunkt-Perspektive beigebracht: Bildfläche, rechtwinklige Projektion, Horizontlinie …«
    »Mindestens eines davon muss man kennen, wenn man malen will, stimmt’s?«
    »Ehrlich gesagt«, erwidert Clair, »habe ich heutzutage für Malerei nicht mehr viel übrig. Mich interessiert eher das rein Praktische, und ich mag die Tätigkeiten der Handwerker, die Ästhetik des Arbeiters. Die finde ich ehrlicher, nicht so unaufrichtig …«

    Er starrt aus dem Fenster, die Miene ernst, doch freudlos. In seinem Gesicht meint Serge eine Vision der Zukunft gespiegelt zu sehen – die kollektive Zukunft oder doch eine mögliche Version davon, eine fairere, vernünftigere, nüchternere Version, die ihn allerdings kaltlässt.
    Billie Lees Party steigt am nächsten Tag. Serge, Audrey, Becky und all die anderen Amazonen fahren in einer langen Taxi-Kavalkade am Themse-Ufer entlang, vorbei an der Tower Bridge nach East End. Sie sehen einen Markt, auf dem zu dieser späten Stunde noch reges Treiben herrscht: Juden, Polen, Russen,

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