K
ein.
»›Schreckensherrin‹«, intoniert Falkiner, »›mit himmelstürmenden Mauern, Herrscherin, Herrin der Zerstörung, die die Worte sprechen…‹ Moment … ›Worte zu sprechen weiß, die den Sturm und den Wirbelwind bannen … Spricht der Pylon: Tritt ein. Du bist rein …‹«
»Pylonen?«, fragt Serge Laura. »Erfindet er das?«
»Nein.« Wieder übernimmt sie die Rolle des Kommentators. »Pylonen waren Tore – zum Tempel, aber auch in die Unterwelt.«
»›Ehre sei Dir, spricht Horus‹«, fährt Falkiner fort. »›O zweiter Pylon des stillgestandenen Herzens. Ich kenne Dich, und ich kenne Deinen Namen, und ich kenne den Namen des Gottes, der über Dich wacht: Himmelsgebieterin, Herrin der Welt, Kraft Eures Leibes Schrecken der Erde …‹«
»Der Verstorbene, der seinerseits darauf wartete, wieder zusammengesetzt zu werden, musste sie alle passieren«, erklärt Laura, »und jeden Torwächter mit Namen anrufen.«
Und Falkiner ruft sie an. Beim sechzehnten Pylon heißt es: »O Schrecken Erregende, Herrin des Regenschwalls, die in die Seelen der Menschen den Untergang sät, Leichenverschlingerin.« Beim zwanzigsten Pylon heißt es: » Göttin mit rückwärts gewandtem Antlitz, Unerkannte, Vernichterin dessen, der ihrem Feuer zu nahe kommt …« Beim einundzwanzigsten ist die Rede von »geheimen Plänen und Verschwörungen«. Dann folgt eine lange Liste all der untergeordneten Wachen der Pylonen: »Tschen von At lautet der Name dessen, der am Tor wacht; Hetepmes lautet der Name des Zweiten; Mes-sep
lautet der Name des Dritten; Utch-re lautet der Name des Vierten …«
Die Mannschaft hört ihm wieder teilnahmslos zu. Irgendwann verklingen die Anrufungen schließlich, doch im Klirren der Ankerkette an der Bordwand der Ani, im Surren und Zirpen der Insekten vernimmt Serge das Auf und Ab ihrer Wiederholungen noch bis spät in die Nacht.
Am dritten Tag wird das Land hügeliger und ist nicht mehr so fruchtbar; die Wüste reicht jetzt bis ans Nilufer. Ihre Formlosigkeit hat anscheinend nicht nur alle verzagten Versuche, sie durch Ackergemarkungen bändigen zu wollen, zunichtegemacht, sondern auch jede Bemühung, sie selbst zeitlich einzuordnen: Heute sind es keine Epochen mehr, die Serge aus der Wüste heraus anstarren, sondern die Grundbestandteile der Zeit selbst, ihre Materiepartikel, vom Stundenglas befreit und bis in alle Unendlichkeit vervielfacht. Noch immer hat er den Eindruck, in einer Maschine zu stecken, nun aber in einer, die sich selbst überlassen ist – vielleicht ist derjenige, der sie bediente, in ihrem Innern gestorben –, weshalb sich die Bewegungen nun grund- und zwecklos wiederholen. Handlungen sind zu ihren eigenen kümmerlichen Resten verkommen: Pacories Arm hängt über der Bordwand und schlenkert wie ein kraftloser Hebel oder Schaltknüppel im Wasser; er, Alby und Serge spionieren einander derart halbherzig nach, dass es schon komisch wirkt; ihre zirkuläre Choreographie: sich Notizen machen, Seitenblicke und abgewendete Köpfe, kaum mehr als eine Abfolge nichtssagender, unvollständiger Gesten. Nach dem Tee hält Laura ihm wieder einen Vortrag, ebenfalls halbherzig und wohl nur aus Gewohnheit; diesmal über die geheimeren Osiris-Zeremonien:» Sie wurden an unterirdischen Orten abgehalten«, sagt sie langsam, und träge ruht die Hand an der Stirn. »Was man dabei gesagt hat, wissen wir nicht, da nie
enthüllt wurde, worum es ging. Vermutlich aber drehten sich die Zeremonien um Thot …«
»Warum benutzen Sie das deutsche Wort?«, fragt Pacorie in gleichermaßen desinteressiertem Ton.
»Welches Wort?«
»Tod. Le Mort .«
»Nein, Thot«, erklärt Laura. »Der Gott der Geheimschrift, dessen Kultstätte in Hermopolis lag.«
»Wieder der kleine, pausbäckige Thot«, murmelt Serge.
»Zu ihm gehören kryptographische Hymnen und Zaubersprüche.« Falls Laura ihn gehört hat, ignoriert sie seine Worte. »Der stammelnde Moses mit seinen Gesetzestafeln geht auf ihn zurück. Er hatte sein eigenes Buch: Damit, so hieß es, ließe sich der Himmel verzaubern und die Sprache der Vögel verstehen, auch die aller anderen Tiere, sogar die der kleinsten, selbst die der Mikroben. Aber es ging verloren …«
Niemand sagt etwas dazu, und so versandet ihr Gespräch. Als die Insekten kommen, beobachtet Serge eines der im Netz gefangenen Tiere und wendet sich noch einmal an Laura: » Was ist mit den Skarabäen?«
» Wie meinen Sie das?«
»Warum sieht man überall Nachbildungen dieser Käfer,
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