K
übertragen. Die Spalten auf ihren Blättern gleichen Fliegenpapier oder Filmstreifen, jedem Symbol entspricht ein Bild: Vogel, Sense, Fuß, Anch, Augen, eine Händepaar …
Er wirft einen Blick über ihre Schulter und fragt: »Was bedeutet das?«
»Es sind Zaubersprüche für bestimmte Aufgaben: Sie sollen den Mund des Toten öffnen, damit er essen kann, Krokodile verscheuchen, die sein Herz verschlingen wollen, und Ähnliches mehr. Solche Sprüche stehen fast überall, auf Amuletten, Masken, sogar auf den Bandagen.«
Der Seite gegenüber, auf die sie gerade die Symbolstreifen kopiert, steht, woher sie kommen: Außensarg, rechte Seite … Außensarg, linke Seite … ebd., Fußende … Kopfende … Innensarg, rechts … Innensarg, links … ebd., Fußende… Darunter folgt eine Liste mit Gegenständen, je eine Spalte für Grab, Leichnam, Vase, Sarg, Perlen. Die Einträge darin lesen sich wie ärztliche Notizen: Aufgeschnittener Leichnam … Kupferbohrer in Knochen … XLIII, 2 Bandagerollen … Leinen über linkem Fuß, Kopf auf Kiste … Leinen… Löwenskarabäus … Jaspis-Skarabäus … Leinen … Leinen … Leinen …
»Haben Sie Leichen gefunden?«, fragt er.
»Meist nur einzelne Knochen: Die findet man überall zu Hunderten. Intakte Leichname wurden längst geplündert oder von Expeditionen mitgenommen. Wegen der kostbaren Grabbeigaben hat man vorzugsweise königliche und adlige Gräber ausgeraubt, mit Mittelklassegräbern hat man da schon eher Glück: Oft ließ man sie links liegen, weshalb sie kaum kontaminiert sind; außerdem sind sie mir sowieso lieber.«
» Wieso?«
»Sie sind interessanter, abwechslungsreicher. Als mit Beginn der Vierten Dynastie die Gräber der Pharaonen kleiner wurden, waren plötzlich jede Menge geschickter Handwerker zum Verschönern privater Grabmäler verfügbar, sofern man sie sich leisten konnte …«
Wieder spult sie Informationen ab – doch ist nun alle Trägheit verschwunden und ihre Begeisterung wieder spürbar. Serge wird davon angesteckt, nicht nur von dem, was sie sagt, sondern auch davon, wie sie es sagt, wie der Lochstreifen aus ihrem Mund quillt. Er schaut ihr auf die Lippen. Sie sind braun, staubbedeckt. Während er zusieht, wie sie sich bewegen, überkommt ihn ein seltsames Gefühl, fast als nähere er sich nicht nur dieser Frau oder einer Information, sondern dem Wissen darüber, was hinter alldem hier liegt…
Laura spürt seine Begeisterung. Unter der Staubschicht färben sich ihre Lippen rosa und bewegen sich immer schneller: »Die Dekorateure – die Künstler, Schreiber – hatten größere Freiheiten, mehr Spielraum, um alte Texte zu mischen und so Neues zu schaffen. Auch eine größere Themenwahl. Kommen Sie, sehen Sie sich diese Stele hier an.«
Sie führt ihn zu einer großen, flachen, an die Wand gelehnten Steintafel. Darauf ist in bunten Abbildungen ein Mann im Profil zu sehen, der vor einem mit Köstlichkeiten beladenen Tisch sitzt. Musiker, Akrobaten und Tänzerinnen unterhalten ihn, zu seinen Füßen liegt ein Hund, darunter sind Diener und Handwerker zu erkennen – Bäcker, die Brotlaibe aus dem Ofen ziehen, oder auch Tischler, die hüfthohe Balken durchsägen; Steinmetze meißeln und behämmern Felsbrocken, Schlachter hacken Fleisch; um sie herum und weiter vom Herd in der Bildmitte entfernt sieht man Männer auf den Feldern arbeiten und im Sumpfland fischen. All diese Gestalten – Schausteller, Händler, Bauern, Haustiere – sind, wie die Hauptfigur, im Profil dargestellt. Sie agieren miteinander und scheinen Worte auszutauschen – doch stumm, in Zeichensprache.
»Das ist schön«, sagt Serge.
»Die Farben?«
»Nein, die Flachheit.«
»Das hier ist sozusagen die Biographie eines der in diesem Komplex begrabenen Menschen«, erzählt sie. »Sein Leben, die darin vorkommenden Menschen, die Welt um ihn herum. Literatur in ihren Anfängen. Unten in der Ecke hat sich übrigens der Schreiber selbst verewigt. Sehen Sie die Figur mit dem Stift?«
»Ja«, antwortet Serge. »Wie haben Sie den Stein genannt?«
»Eine Stele. Sie wurde gleich hier drüben gefunden.«
Laura zupft ihn wieder am Ärmel und führt ihn durch die Tür, durch die sie ihn anfangs nicht gehen lassen wollte, um
sich dann neben ein großes, viereckiges Loch in der Wand der neuen Grabkammer zu hocken, durch das ein kleiner, mit Plastik ummantelter Draht ins Dunkle verschwindet.
»Stelen wurden eine Ebene über dem eigentlichen Grab aufgestellt«, erzählt sie, »wie ein
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