K
Zeichnung einer anämischen Reproduktion der Maserung auf den Maulbeerblättern. Dünne, braune Stränge ziehen sich in Reihen durch das weiche, weiße Gewebe – gerade, parallele Linien, die sich wie Speichen, die in einer Nabe zusammenlaufen, zu einem gezackten, lotrechten Hauptstrang vereinen und so das cremige Weiß in einzelne Fächer teilen. Das Muster erinnert Serge an die Bleiglasfenster der Kirche St. Alfege in Lydium – nur sind diese Fenster hier ohne Farbe, bar aller Szenen oder Gestalten, ein Satz leerer, weißer, länglicher Rahmen. Er hält sich einen ans Auge, ein Mottenflügelmonokel: Die Brutkammer mit ihren Holzbalken und den knienden Frauen verhüllt ein Gazeschleier, und sie ähnelt nun einer Daguerreotypie, blass, sepiabraun. Serge, sieben Jahre alt, sagt sich melancholisch: So wird dieser Anblick Jahre später wirken, wie auf Photopapier abgebildet – anämisch, verblasst, schon halb tot.
II
Ein Gespenst schwebt auf ihn zu, ragt weiß und riesig hinter dem Schleier auf. Dem Gespenst fehlt es an Feingefühl, statt makabren Schrecken zu verbreiten, hat es eine Miene amüsierten Spotts aufgesetzt.
»Du siehst blöd aus«, sagt Sophie.
Serge lässt den Flügel sinken und erwidert: »Du auch.«
Er hat nicht ganz unrecht: Sie ist in lange, weiße Seidentücher gehüllt. Linkisch schlingen sich die Bahnen um ihren fast jugendlichen Körper, an den Schultern festgesteckt, um die Hüfte ungerafft.
»Ist noch nicht fertig«, sagt sie. »Da werden noch Sterne drübergestreut. Du wirst schlimmer aussehen. Papa sagt, du musst eine Sense halten. Wo ist Mama?«
»Da drüben irgendwo.« Serge weist mit einem Kopfnicken zur Innentür der Brutkammer. Sophie hebt ihre Schleppe an und geht hindurch; er folgt ihr. Sie überqueren einen kleinen Hof und betreten die Aufzucht. Spaliere ziehen sich vom Boden bis zur Decke: Bambusrahmen, halb mit Kokons gefüllt, unterteilen den Raum und verstellen den Blick, verschleiern ihn, wie das Flügelprisma die vorherige Kammer verschleierte. Manche Kokons sind dick, kaum transparent, andere fein und durchsichtig: Unter den unfertigen weißen Hüllen kann Serge Würmer sehen, deren Kopf in langsamen Achterfiguren wackelt, eine stetig wiederholte Bewegung, die wie ein dumpfer Herzschlag durch die dünnen Häute pulsiert. Die Kinder gehen weiter zum Spinnhof, wo eine Frau mit einem Topf beschäftigt ist, von dem Rauchfahnen aufsteigen.
»Master Serge, Miss Sophie.«
»Wo ist Mama?«, fragt Sophie.
Die Frau stippt die Kokons an, die im siedenden Wasser wippen, tunkt sie unter und wendet sie, als würde sie Nocken kochen. »Bei einem Käufer«, antwortet sie dann, beugt sich über eine Schüssel mit kühlerem Wasser, sticht ein paar vorgekochte Kokons mit einer Nadel an, zieht den gelockerten Faden heraus und spannt ihn auf die Haspel. Sobald sie die Kurbel dreht, beginnt der Kokon im Wasser zu kreiseln, bis der Faden gänzlich abgewickelt ist und nur der verhutzelte, schwarze Puppenleib übrigbleibt, der noch einige Sekunden an der Oberfläche treibt, ehe er auf den Grund der Schüssel sinkt.
»Maureens Baby«, murmelt Sophie zu Serge.
»Was?«, fragt die Frau.
»Wenn man sie nicht tötet, zerreißen sie beim Herauskommen den Faden.«
Die Frau runzelt die Stirn: Sie weiß, Sophie hat nichts dergleichen gesagt. Also löst sie die frisch gewickelte Spule vom Haken, gibt sie Serge und sagt ihm und Sophie, sie sollen sie zum Zwirnen bringen. Im Zwirnraum stehen drei Frauen in einigen Metern Abstand, die erste zwirbelt einzelne Fäden zusammen, die zweite zieht den gezwirnten Organsin in die Länge, die dritte durchtrennt das Kettgarn, sobald es eine bestimmte Länge erreicht hat. Serge legt die Spindel auf einen Stapel zu Füßen der Frau, die kurz aufschaut und nickt, ohne aus dem Rhythmus zu kommen. Die Kinder ziehen weiter zur Färbekammer, in der ein ätzender Geruch aus einem großen, dampfenden Kessel aufsteigt, über den sich eine ältere, hexenhafte Frau beugt, um mit einem Stock den Inhalt unter Wasser zu stoßen, als wollte sie ein Kätzchen ersäufen. Im Vorbeigehen sehen die Kinder, wie sie den Stock beiseitelegt, die Arme bis zum Ellbogen in den Kessel taucht und ein klatschnasses, grellrotes Bündel Seidenfäden herauszieht, das sie rottropfend durch die Luft wirbelt und dann an Holzpfählen aufhängt.
»Igitt«, sagt Sophie und drückt sich an der Wand entlang, um den Spritzern auszuweichen, die mit stetem Regengetrommel auf den Boden pladdern. Ein
Weitere Kostenlose Bücher