K
Krypta vorbeigeht, in dem sie zu sich kommt und die Glocke läutet. Das ausgesandte Signal wird schwach sein, doch stark genug, um überall auf dem Gelände empfangen werden zu können, sollte zum Beispiel Serge mit seinem Funkapparat experimentieren, wie er es, wenn ich mich nicht irre, dieser Tage so oft zu tun pflegt …«
Serges Mutter verbringt ihre Zeit in den Spinnereihäusern und webt an einem Leichentuch. Bodner versorgt sie mit Tee: Serge sieht ihn praktisch jedes Mal zwischen Garten und Webraum oder Lager hin und her eilen, wenn er in diese Richtung aus dem Mansardenfenster schaut. Er ist jetzt oft oben in der Mansarde, da er diesen Raum am deutlichsten mit jenen Stunden verbindet, die er allein mit Sophie verbrachte. Die Zylinder und die Platten sind noch da. Wenn er sie nun abspielt, heftet sich Sophies Stimme an die mitgeschnittenen Töne, saugt sich wie ein Egel daran fest – unversehens, als wäre ihre Stimme den Aufnahmen in tieferer Schicht in Wachs und Schellack unterlegt, flackere unsichtbar in ihrem Knistern auf, gleite durch das Rauschen der aufgezeichneten Stille. Beim Zuhören schaut er hinaus auf die flache, reglose Landschaft. Die Schafe scheinen sich niemals zu bewegen. Still stehen sie da, bläschengroße Flecken auf dem Arcady Field. Selbst der sich windende Fluss wirkt leblos, erstarrt zu todessteifem Grinsen. Nur den Bäumen im Krypta-Park scheint noch etwas Bewegung geblieben zu sein: Langsam ziehen sie sich zusammen, dehnen sich wieder aus, atmen die Worte der Tagesschüler, die ihr Gedicht auswendig lernen:
Sobald der Abendschatten naht,
Begibt der Mond sich auf den Pfad,
Der lauschenden Erde zu berichten
Ihrer Geburt wundersame Geschichten …
Die rhythmischen, sich wiederholenden Verse mutieren und verzerren sich so sehr, dass sie selbst dann, wenn die Worte korrekt ausgesprochen werden, eine falsch betonte Version von etwas anderem zu sein scheinen, von fremden Zeilen, die hinauf an die Oberfläche dringen, sich Gehör verschaffen wollen. Serge, der auf dem Fensterbrett drei Stockwerke über den Schülern kniet, spitzt die Ohren, um diese vergrabenen Wendungen auszumachen, empfängt aber nur undeutliches Gemurmel. Selbst der Grundriss des Geländes scheint etwas zurückzuhalten – eine Kontur, eine assoziative Linie, eingeschrieben der abgeflachten Geometrie, getarnt von Rasen, Mauern und Gärten …
Am Tag der Beerdigung ist es sonnig und warm. Auf dem Kiesweg nähern sich die Trauergäste mit bedächtigen, gedämpft klingenden Schritten und versammeln sich, alle in Schwarz, vor dem Tor zum Krypta-Park mit den obeliskgekrönten Säulen, unterhalten sich leise und blicken sich nervös um, während sie versuchen, ihren Gastgeber, ihre Gastgeberin oder Serge ausfindig zu machen. Nach einer Weile tritt Karrefax forschen Schrittes aus dem Haus und grüßt die Menge mit überschwänglichen Worten.
»Wie prächtig, dass Sie kommen konnten! Im Anschluss gibt es einige Erfrischungen, doch lassen Sie uns erst einmal in den Park gehen. Wie? Wunderbar! Tja, keine Sitzplätze, tut mir leid. Wo ist Miss Hubbard?«
Wie auf ihr Stichwort tritt Miss Hubbard mit sieben, acht Schülern im Schlepp aus den Klassenräumen. Sie führt die Kinder durch das Tor zum Krypta-Park, hält sich aber hinter
Karrefax und den übrigen Trauergästen. Serge mäandert ihr nach. Vor der Krypta wartet der Vikar. Maureen, Frieda und die Dienstmädchen sind ebenfalls dort. Frieda und die Mädchen weinen; Maureen hat ein stoisches, grimmiges Gesicht aufgesetzt. Das des Vikars dagegen verschickt ein tröstliches Leuchten, mit dem er sich umschaut, als wollte er es an die Mienen aller Eintreffenden heften. Auf einer kleinen hölzernen Empore an seiner Seite steht der Sarg. Er ist aus dunklem Holz, die Griffe sind aus Messing; aus einem kleinen Loch im Deckel, das vermutlich für alle außer für Serge und dessen Vater unsichtbar bleibt, baumelt ein dünner Draht. Auf beiden Seiten des von Karrefax geplanten Grabens steht zwischen Erdhügeln ein Arbeiter mit einem Spaten in der Hand. Sie erinnern an Soldaten, die entlang der Route eines Würdenträgers Haltung angenommen haben. Seit Serge die mechanische Anordnung zuletzt gesehen hat, ist sie noch komplizierter geworden. Lotrecht zu dem mit Schienen ausgelegten Graben, doch höher, wurde eine neue Schiene angebracht, eine Vorhangschiene mit Gardinenringen, an denen schwarzes Tuch hängt. Eine der beiden den Vorhang tragenden Streben wurde mit einem kleinen
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