Kabeljau und Kaviar
ihn.
»Tom? He, Tom! Was zum Teufel ist hier
los? Wo ist Wouter?«
Die Stimme gehörte Obed Ogham, der
gerade in den Kohlentender stürmte. Dem Zustand seiner Hosenbeine nach zu urteilen,
mußte er sich auf dem Rückweg zum Zug durch den Schnee gekämpft haben, statt
auf dem freigeräumten Weg zu bleiben. Auf seinem roten Gesicht lag ein
Ausdruck, den Max nicht zu deuten wußte.
»Wouter ist vorn im Führerstand«,
teilte Tom Ogham wahrheitsgemäß mit. »Hast du eine Ahnung, ob der Krankenwagen
inzwischen eingetroffen ist?«
»Sie haben gesagt, daß sie sofort
kommen. Ich habe persönlich mit dem Mann gesprochen.«
»Dann sei bitte so gut und mach
telefonisch noch ein bißchen Druck, ja? Wie läuft es denn oben im Haus?«
»Nicht besonders gut.« Ogham schien
sich in der Rolle als Überbringer schlechter Nachrichten wohl zu fühlen. »Die
Leute reagieren ziemlich seltsam auf Wouters vorgetäuschtes Zugunglück. Weißt
du, Tom, ich fand das Ganze auch überhaupt nicht komisch. Abby Dork ist das
Gebiß ins Klo gefallen, und Ed Ashbroom fühlt sich sterbenselend. Seiner Frau
geht es noch miserabler, aber sie macht längst nicht so ein Theater wie er.
Aber du kennst ja Ed. Jedenfalls klagen alle über Magenschmerzen und Brennen im
Hals und schlagen sich darum, wer zuerst ins Bad darf. Wenn du es genau wissen
willst, ich selbst fühle mich auch nicht besonders — «
Ogham bekräftigte diese Feststellung,
indem er plötzlich aus dem Tender stürzte, um den Zug schnellstens zu verlassen.
Als Max und Tom ihn fanden, stand er zusammengekrümmt da und übergab sich in
eine Schneewehe.
Tom Tolbathy sah sich das unerfreuliche
Schauspiel entgeistert und mit schneeweißem Gesicht an. »Mein Gott, was geht
hier bloß vor?«
»Wahrscheinlich eine Kombination aus
Schock und zuviel Alkohol«, schlug Max vor. »Sie wissen ja, wie so etwas ist.
Einer wird hysterisch, und der Rest zieht mit.«
Das war eine Lüge, und Max wußte es
auch. Eine weniger hysterische Gesellschaft als diese hatte er selten zu Gesicht
bekommen. Nachdem der Zug plötzlich gehalten hatte, war niemand in Panik
geraten; lediglich vereinzelte vornehme Kraftausdrücke waren laut geworden, und
hier und da war ein entrüstetes ›Also wirklich!‹ zu hören gewesen.
Was den Alkohol anbetraf, so hatten die
meisten Gäste zwar tatsächlich erhebliche Mengen getrunken und erschreckend
wenig gegessen — sofern man den Maßstab von Bittersohns eigener Familie
anlegte. Doch hier handelte es sich um Jeremy Kellings Saufkumpane, und
gemessen an dessen Rationen, das wußte Max, hatten sie gerade erst zu feiern
begonnen.
Außerdem konnten Mägen, die an Baked
Beans und kräftige neuenglische Eintopfgerichte gewöhnt waren, bestimmt einiges
vertragen. Bisher hatte Max zahlreiche Mitglieder seiner angeheirateten Familie
sowie deren Freunde in verliebtem, kriegerischem und schläfrigem Zustand
gesehen, aber niemals war irgend jemand von Übelkeit befallen worden, es sei
denn, er hatte sich über eine falsch zitierte Textstelle von John Greenleaf
Whittier geärgert — oder über eine Lobeshymne auf Franklin Delano Roosevelt.
»Sollten wir ihm nicht irgendwie
helfen?« fragte Tom nervös.
»Es wird ihm gleich wohler sein«,
beschied ihn Max.
Nach ein oder zwei weiteren
Würgekrämpfen rieb sich Ogham das Gesicht mit einer Handvoll Schnee ab und
begann sich mit einem Taschentuch zu säubern.
»Keine Ahnung, was mit mir los ist«,
murmelte er. »Am besten redest du mal ein ernstes Wort mit deinem
Getränkehändler, Tom, oder du hörst auf, deinen eigenen Fusel zu brennen.«
Max betrachtete neugierig Oghams
Gesicht im Licht der Lokomotivscheinwerfer. Es war immer noch purpurrot, die
hellblauen Augen waren blutunterlaufen, doch sah er nicht ernsthaft krank aus.
Und ganz sicher war er nicht im üblichen Sinne betrunken. Max fand nichts
Außergewöhnliches in Oghams Gesicht. Ohne den üblichen arroganten Ausdruck
unterschied es sich kaum von dem anderer Männer. Ein interessanter Gedanke. Max
hatte Ogham bislang nicht zu den potentiellen Verdächtigen gezählt, doch
tatsächlich hatte er ungefähr den richtigen Körperbau und war durchaus der
richtige Typ. Er hätte sich leicht als Sommelier verkleiden können. Blieb nur
noch die Frage zu klären, ob Ogham sein für gewöhnlich zur Schau getragenes
selbstherrliches Gehabe freiwillig gegen das eines einfachen Kellners eingetauscht
hätte.
Aber er hätte die Rolle ja nur ganz
kurz spielen müssen. Außerdem konnte er
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