Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition)
Passagiere.“
„Und was ist mit der letzten Person?“
„Keine Ahnung. Hier steht nur ein Vorname.“
„Und zwar?“
„Henrik.“
Schiregion Kitzbühel, 3S-Bahn, Kabine 14
Samstag, 6. Januar, 13:10 Uhr
Emma bedachte Henrik mit wütenden Blicken. Am liebsten hätte sie den Rothaarigen gepackt und so lange geschüttelt, bis er redete wie ein Wasserfall. Alle anderen waren damit einverstanden gewesen, ihre Daten auf den Notizzetteln zu vermerken. Nur dieser Henrik … Zuerst hatte er Emmas Frage einfach ignoriert, dann einen trotzigen Gesichtsausdruck aufgesetzt, sich provokant von ihr weggedreht und schlussendlich mit scharfer Stimme verkündet, dass es sie einen Scheißdreck angehe, wie er heiße und wo er wohne.
Emma war ob der heftigen Reaktion zu perplex gewesen, um in ihrer gewohnt nachdrücklichen Weise ein zweites Mal nachzuhaken. Im Nachhinein tat ihr das leid. Zu gern hätte sie gewusst, wie lange sich Henrik beherrschen konnte und ob er vielleicht sogar handgreiflich geworden wäre.
Sie wusste selbst nicht, weshalb sie einen derartigen Zorn auf Henrik hegte. Theoretisch sollte es ihr gleichgültig sein, ob er seine persönlichen Daten preisgab oder nicht. Theoretisch. Praktisch wurmte es sie derart, dass sie ihr eigenes Urteilsvermögen in Frage stellte. Es war zum Verrücktwerden!
Emma zwang sich zur Ruhe und überlegte. Es musste einen Grund für ihre heftige Reaktion geben. Nichts geschah zufällig. Womöglich waren ihre Empfindungen Ausdruck einer Botschaft ihres Schutzengels. Wollte er sie warnen? Ihr verdeutlichen, dass der Mann eine Bedrohung darstellte?
Emma lugte zu Henrik hinüber. Sie erinnerte sich an ihr Gefühl, als sie den Rothaarigen das erste Mal genauer betrachtet hatte. Es war pure Angst gewesen. Besser, sie hielt die Augen offen. Sicher war sicher.
*
„Kannst du dich an unseren Urlaub in der Dominikanischen Republik erinnern?“
Sonjas Stimme war ganz dicht an seinem Ohr. Sie sprach im Flüsterton, als wollte sie nicht, dass die anderen Fahrgäste ihr Gespräch belauschten.
„Natürlich“, erwiderte Raphael ebenso leise. „Letztes Jahr im August. Ich weiß noch, wie du an deinem Geburtstag eine riesige Torte vom Personal bekommen hast und dich auf die Bühne stellen musstest. Dabei habe ich noch gesagt, dass sie kein Aufsehen machen sollen.“
„Genau.“ Sonja lächelte. „Und auf deiner Glückwunschkarte ist gestanden: ‚Alles Gute, du bist jetzt ein Vierteljahrhundert alt!‘ “
Raphael grinste. „Du hast es mit Humor genommen.“
„Natürlich. Hätte ich dich schlagen sollen?“
„Nein. Eine gebrochene Nase wäre im Urlaub nicht vorteilhaft gewesen.“
„Ach komm, nur weil ich ein bisschen Karate kann?“
„Ein bisschen? Der vierte Dan ist in meinen Augen lebensbedrohlich.“
„Aber nur für böse Buben.“ Sonja beugte sich näher heran und berührte mit ihren Zähnen sein Ohrläppchen. „Du willst doch nicht behaupten, dass du ein böser Junge bist?“
Ein wohliges Kribbeln breitete sich von Raphaels Ohr über seinen Nacken auf seinen gesamten Körper aus.
„Nein“, flüsterte er. „Aber was nicht ist, kann ja noch werden.“
„Oha. Muss ich dich vorbestrafen?“
„Du musst. Aber vielleicht nicht hier vor allen Leuten.“
Sie lachten beide und berührten sich mit den Nasenspitzen. Raphael strich seiner Freundin eine Locke aus dem Gesicht und verlor sich für einen Moment in ihren großen, dunkelgrünen Augen.
Wie ein stiller Waldsee
, dachte er.
Tief, unberechenbar, aber das Spiegelbild einer kristallklaren Seele
.
München, Innenstadt, Fußgängerzone
Samstag, 6. Januar, 13:20 Uhr
Der Wind heulte und tobte durch die engen Gassen. Anna hatte sich bei Bernhard eingehängt, nachdem sie zweimal beinahe von den Füßen gefegt worden war. Wie ein betrunkenes Ehepaar torkelten sie durch die Innenstadt.
„Wir setzen uns in das nächste Restaurant, das wir sehen!“, brüllte Bernhard.
„Einverstanden!“, erwiderte Anna und drückte sich enger an ihren Vorgesetzten. Bernhard lächelte. Sie erinnerte ihn an seine Tochter. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen Bernhard mit ihr durch München geschlendert war, hatte sie sich auf die gleiche Weise an ihn gedrückt. Manchmal umklammerte sie seinen Arm und versuchte, ihn mit ihrem süßen Schmollmund zu überreden, in die Schokothek mit den riesigen Nougatpralinen …
Bernhard brach ab. Es gab Erinnerungen, die sollten dort bleiben, wo sie waren. Instinktiv rückte er ein wenig von
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