Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition)
Stunde regungslos auf ihrem Platz. Das war an sich schon ungewöhnlich. Noch auffälliger war die Tatsache, dass sie nach ihrem Missgeschick kein Wort mehr gesprochen hatte. Kommentarlos hatte sie Doris’ wenig erfolgreiche Bemühungen geschehen lassen, ihren rosafarbenen Schioverall mit Taschentüchern zu säubern. Doris’ Fragen nach ihrer Befindlichkeit hatte sie ignoriert. Dabei musste Samantha die Kälte inzwischen mehr spüren als sie selbst. Alles zusammengenommen, hinreichende Anzeichen dafür, dass es Samantha wirklich nicht gutging; bei kleineren Wehwehchen brach sie meist in Tränen aus oder heulte und schrie wie ein Windelkind.
Doris war beunruhigt. Gleichzeitig auf seltsame Weise gelassen, als hätte sie eine Überdosis Beruhigungspillen geschluckt. Jedenfalls konnte sie nichts unternehmen, solange Samantha schwieg und ihrer Mutter nicht verriet, was ihr genau fehlte.
Doris verschränkte die Finger. Vielleicht sollten ihr die Geschehnisse peinlich sein, aber tatsächlich war es ihr ziemlich egal, was die anderen Fahrgäste über sie und ihre Tochter dachten. Die missbilligenden, teilweise angeekelten Blicke waren an ihr abgeprallt wie Wattekügelchen an einer Stahlmauer.
Nur Sebastian hatte Verständnis und Mitleid erkennen lassen und ihr ein aufmunterndes Lächeln geschenkt. Der Seilbahnmitarbeiter wurde ihr immer sympathischer. Unter anderen Umständen wäre sie aktiv geworden, so wie letztens bei dem feschen Jüngling im Fitnesscenter. Der gestählte Adonis hatte es ihr besorgt, wie es ihr Mann schon seit Jahren nicht mehr zuwege brachte. Und dass es auch noch in der Umkleidekabine geschehen war, hatte die Sache noch anregender werden lassen. Doris spürte ein warmes Ziehen unterhalb ihres Bauchnabels und schlug instinktiv die Beine übereinander. Sie warf einen scheuen Blick in die Runde, aber niemand beachtete sie.
Dumme Kuh
, schalt sie sich selbst und betrachtete die feinen Rillen des Metallbodens.
Niemand kann sehen, was du denkst
.
*
Die Mutter der Kleinen war heiß. Er konnte es sehen, fühlen, riechen, beinahe schmecken. Sie verströmte ein Odeur aus Lust, das die gesamte Kabine erfüllte. Wie dumm von ihm, dass er sich zunächst auf die Sechzehnjährige konzentriert hatte. Doris’ attraktives Wesen war ihm nicht aufgefallen. Eigentlich mochte er keine Frauen, die bereits Kinder hatten. Sie kannten den Schmerz. Bei ihnen musste er sich besonders anstrengen, um zu einem ähnlichen Ergebnis zu gelangen. Auch waren ihre Vaginen und Brüste nicht mehr so empfindsam. Andererseits hatten Mütter eine größere Ausdauer. Fraglich war bloß, wie sich Doris’ mangelndes Selbstbewusstsein und ihr gestörtes Verhältnis zu ihrem Körper auf ihr Schmerzempfinden und ihr Durchhaltevermögen auswirkten. Es käme wohl auf einen Versuch an.
Probieren geht über studieren
. Seine Augen blitzten.
Krankenhaus Kufstein, Unfallchirurgie
Samstag, 6. Januar, 14:10 Uhr
Einer ihrer Sinne arbeitete, registrierte. Etwas war anders. Was war es? Woher kam es?
Geräusche.
Es waren harmonische Laute, die mal deutlich, mal undeutlich erklangen, unterschiedliche Höhen und Nuancen erreichten und aus wenigen Metern Entfernung an ihr Ohr drangen.
Stimmen.
Es waren Menschen; zwei Menschen, die miteinander sprachen. Aber Natascha verstand sie nicht. Unterhielten sie sich in einer fremden Sprache? Nein, dem war nicht so. Nur wirkte das Gespräch verworren, nichtssagend, wie durch einen hallenden Nebel gezogen und ins Groteske verzerrt.
Ich muss mich konzentrieren. Es könnte wichtig sein
.
„… abder velleiht sollten wir trotztahmeem … wehn wi… das Bein …“
Konzentriere dich!
„Ich stimme Ihnen zu, Herr Kollege.“ Die Stimme war tief und ruhig, strahlte Kompetenz und Gelassenheit aus. „Dennoch sollten wir kein Risiko eingehen.“
„Natürlich, natürlich.“ Die zweite Stimme war höher, direkt schrill. „Aber trotz der schweren Gefäßschäden sind die Durchblutungsstörungen laut Angiographie halb so schlimm.“
„Trotzdem. Die Fraktur ist kompliziert, die Erfrierungen dramatisch. Die Nekrose umfasst den Großteil des Fußes und zieht sich bis zum Unterschenkel.“
„Ich betone noch einmal: Der Eingriff ist verfrüht. Wenn die zweite Operation keine Besserung bringt, bleibt uns nichts anderes übrig. Aber – auch mit Rücksicht auf die Patientin – will ich alle Alternativen ausschöpfen, bevor wir das Bein amputieren.“
„Gut, meinetwegen“, erwiderte das Gegenüber. „Hoffen wir
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