Käfersterben
Gauguin-Druck. Katinka grauste vor dem schwarzen Kapuzenmann. Ihr fiel der Zettel hinter dem Keilrahmen wieder ein. Hardo hatte ihn schon herausgezogen. Katinka trat neben ihn und las. Paul Gauguin. ›Der Geist der Toten begleitet dich‹. 1892. Buffalo, New York, Albright-Knox-Gallery.
»Ist das die Handschrift Ihrer Freundin?«
»Ja, eindeutig. Aber sie hat noch etwas dazugeschrieben.«
Klein und krakelig, mit einem harten Bleistift, der kaum Substanz auf dem Papier hinterlassen hatte, stand da: Es ist ein Loch im Jahr .
»Ein Loch im Jahr?«, fragte Hardo. »Klingt ziemlich poetisch.«
»Sind Sie auf Lyrik umgestiegen?«, fragte Katinka. Sie wusste, dass Hauptkommissar Uttenreuther ein Germanistikstudium abgebrochen hatte, seine Liebe zur Literatur ihm aber geblieben war. Oft schleppte er dicke Romane mit sich herum.
» Der Geist der Toten begleitet dich . Der Geist sieht nicht unfreundlich aus, oder?«
Katinka starrte auf das Bild. Die nackte Frau schien sich aus dem gespenstischen Begleiter neben ihrem Bett nichts zu machen. Nervös fragte sich Katinka, ob Hardo an seine Tochter dachte. Sein Gesicht verriet keine Regung.
»Ich weiß nicht recht«, sagte sie zögernd.
Hardo schob den Zettel an Ort und Stelle zurück.
»Schöne Plastik.« Wie ferngesteuert trat er auf die steinerne Katinka zu. Er betrachtete sie eingehend. Runzelte die Stirn. Katinka knetete ihre Lippen. Er sah die lebendige Katinka an. Dann die Skulptur. Ka-tinka schnitt eine Grimasse.
Hardo fuhr mit dem Finger über den Speckstein. »Ich frage mich, was ich in diesem Haus noch zu sehen bekomme«, sagte er trocken.
Sie gingen ins Atelier. Drehten jedes Staubkorn um. Nichts. Nichts, was Katinka nicht schon gesehen hätte. Und nichts Persönliches. Nicht einmal ein Kassenbon.
Zwei Stunden später hatte Katinka das Gefühl, jede Minute zusammenzubrechen. Sie hatte unbezähmbaren Hunger. Ihr Frühstück war karg ausgefallen. Es war inzwischen halb drei. Dazu kam die Aufregung. Sie musste dringend etwas essen. Und schnell.
Sie traten vors Haus. Hardo hob den Stein auf und wog ihn in der Hand. Katinka streifte mit einem Seufzer die Latexhandschuhe ab. Die Wolken hatten nun den letzten Rest blauen Himmels verdeckt. Schwer hingen sie über den Wiesen. Jede Minute würde es zu regnen anfangen. Ein böiger Wind fauchte. Die Bäume wiegten ihre Kronen, in unendlichen Grüntönen schimmerten die Blätter.
»Komisch, nicht? So ein mieses, graues Wetter. Aber dennoch wirkt die Landschaft friedlich. Wie ein Zauber.«
Katinka hatte es gar nicht laut aussprechen wollen, aber nun wirbelte der Wind die Worte durch die Luft.
»Sie haben recht«, nickte Hardo. »Das ist das besondere Geschick dieser Jahreszeit. Selbst das Hässliche zeigt ein annehmbares Gesicht. So ist das im Juni.«
»Was kam eigentlich bei den Untersuchungen der anderen ermordeten Käfer raus?«
»Nichts. Keine Fingerabdrücke, die brauchbar gewesen wären. Jedenfalls nicht an den Schwertern. Auf der Karosserie und natürlich im Wageninnern findet sich immer irgendwas. Die Abdrücke des Besitzers, verschiedener Fahrer, Beifahrer, Begleiter … da können Sie unendlich abgleichen, ohne auf nützliche Daten zu stoßen.«
»Werden Sie alles abgleichen? Ich meine, Ihre Leute?«
»Wir sehen eigentlich keinen Anlass«, sagte Hardo. »Im Grunde schaffen wir es gar nicht mehr. Zu viele Fälle, zu viele Ermittlungen. Mit der Arbeit kommen wir zurzeit kaum nach. Augenblicklich blüht nicht nur die Natur auf. Die Kriminellen ebenso. Jeder im Team ist froh, wenn er eine Akte mehr schließen kann. Und nicht mehr öffnen muss.«
»Trotzdem verschwinden Sie in den Urlaub«, neckte Katinka.
»Man legte es mir nahe.« Er grinste. »Damit ich nachher nicht wieder alles am Stück nehme.«
Er ging am Haus entlang und betastete interessiert die Fensterrahmen.
»Panzerglas.«
Katinkas Magen brüllte zorngeladen. Sie brauchte dringend irgendwas Süßes.
»Sonderbar«, murmelte Hardo.
»Denken Sie denn, ein Abgleich der gefundenen Fingerabdrücke mit denen aller eventuellen Fahrer und Beifahrer der VWs könnte zu dem Täter führen? Zu dem, der die Schwerter geschwungen hat?«
»Nein, ich glaube das nicht. Interessant wäre es gewesen, hätten wir Abdrücke einer bestimmten Person in beiden betroffenen Wagen entdeckt. Aber das ist nicht der Fall, und das ist an sich schon aussagekräftig. Geht’s Ihnen nicht gut?«
»Ich brauche was Süßes«, sagte Katinka müde. Vor ihren Augen wirbelte
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