Käfersterben
Man trug sie davon. Urplötzlich flammte Angst auf, dass man sie für tot halten könnte. Verzweifelt murmelte sie, dass sie nicht tot sei, dass sie lebte. Kälte rückte auf sie zu und presste ihre Arme und Beine, ihren Bauch zusammen. Jemand griff nach ihrer rechten Hand. Jemand, dessen Hände warm waren wie frisches Brot. Wenn diese Hände sie losließen, würde sie sterben. Sie waren die letzte Verbindung zum Leben. Mühevoll versuchte sie, sich verständlich zu machen. Sie hörte Motorengeräusch. Es wurde leiser und erstarb.
Als sie zu sich kam, war die Welt in ein sonderbar anmutendes grünlich-graues Licht getaucht. Katinka schnappte nach Luft. Sie kam sich vor, als habe man sie in einem Aquarium versenkt. Alles um sie herum sah verwaschen aus. Sie konnte nicht einmal die Uhrzeit ablesen, obwohl eine große runde Uhr ihr genau gegenüber hing. Sie brauchte ein paar Minuten, bis sie sich erinnerte, dass ihre Brille weg war. Sie wollte sich über die Augen wischen. Ihr linker Arm bewegte sich nicht. Sie versuchte es mit dem rechten. Ein Schlauch war an ihrer Hand befestigt.
Sie zuckte zusammen vor Schreck. Sie erinnerte sich, dass sie Angst gehabt hatte, schreckliche Angst. Sie fragte sich, ob es in Ordnung war, keine Angst mehr zu haben. Oder ob sie auf der Hut sein musste.
Das Schlimmste jedoch war: Sie war ganz allein. Niemand außer ihr befand sich in diesem grünen Zimmer. Sie wollte jemanden rufen, aber es kam kein Laut. Sie versuchte logisch zu denken. Sie konnte nicht tot sein. Schauergeschichten sausten durch ihren Kopf von Menschen, die für scheintot gehalten wurden und im Keller von Krankenhäusern in Kühlräumen abgestellt wurden. Vielleicht war sie in so einem Totenzimmer. Ihr war auch kalt, sehr kalt. Sie rief ein müdes ›Hallo‹, aber nur ein Krächzen kam aus ihrem Hals. Sie weinte ein bisschen, vor Verlassenheit. Erneut nickte sie ein.
»Frau Palfy«, sagte eine freundliche Stimme. »Hören Sie mich?«
Katinka tauchte aus rauchigem Nebel auf. Sie sah nichts, nur ein verschwommenes Gesicht. Schnell schloss sie die Augen wieder. Aber ihre Ohren funktionierten.
»Hören Sie mich?«, fragte die Stimme noch einmal.
»Ja«, hauchte Katinka.
»Haben Sie Schmerzen?«
Katinka überlegte. Sie hatte keine Schmerzen. Sie fühlte eigentlich nichts. Wenn sie sich konzentrierte, dann bemerkte sie ein scheußliches Frösteln am ganzen Körper. Und ihre Füße fühlten sich wie tiefgekühlt an.
»Nein«, sagte sie schließlich. »Aber mir ist kalt.«
»Ich bringe Ihnen noch eine Decke«, sagte die Schwester.
Sie kam nach einer Weile wieder.
»So, damit wird es gehen«, sagte sie und deckte Ka-tinka fast bis zur Nasenspitze zu.
»Was ist denn passiert?«, wollte Katinka wissen. Das Sprechen tat ihr weh, ihr Hals war staubtrocken.
»Sie sind überfallen worden. Jemand hat Ihnen eine schlimme Stichwunde am linken Oberarm zugefügt. Aber keine Angst. Es sind keine bleibenden Schäden zu erwarten, sagt der Chirurg. Ein ganz glatter Stich. Gut zu reparieren. Er musste lediglich den Stichkanal freilegen, um die Wunde zu säubern.«
Reparieren, überlegte Katinka. Klingt nach Auto und Kundendienst. Sie sah sich um. Das zweite Bett im Zimmer war leer.
»Stichwunde«, murmelte sie. Es schien ihr ein Wort zu sein, das sie auf etwas Neues bringen musste. »Wie spät ist es?«
»Kurz nach 20 Uhr. Sie sind operiert worden, es hat nicht lange gedauert. Machen Sie sich keine unnötigen Sorgen.«
»Aber …«, begann Katinka.
»Wenn Sie Schmerzen bekommen, sagen Sie es mir«, unterbrach die Schwester und zeigte Katinka, wo sie klingeln konnte. »Ihr Vater wollte übrigens nicht nach Hause gehen. Ich habe ihm angeboten, sich in unserem Besucherzimmer eine Weile hinzulegen. Aber er bestand darauf, draußen auf dem Gang zu warten.«
»Mein Vater?«, fragte Katinka und starrte die Schwester an. Sie erinnerte sich dunkel, dass es in den letzten 24 Stunden einigen Stress mit ihrem Vater gegeben hatte. Er sollte eigentlich in einem Flugzeug nach Kuba sitzen. Oder auch nicht.
»Würden Sie … würden Sie ihm sagen, dass ich ihn gerne sehen möchte?«
»Klar!«
Die Schwester verschwand. Sie ließ die Tür offen. Katinka wartete gespannt. Dann trat jemand ein.
Obwohl alle Konturen vor ihren Augen verliefen wie auf einem Aquarell, sah sie sofort, dass sie nicht ihren Vater vor sich hatte. Der war kleiner, schmaler. Und vor allem: Er hatte Haare.
»Katinka«, sagte Hardo, während er an ihr Bett
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